06. Mai 2021

WOZ BeilageJournalismus

Verrückt, was Sprache alles kann! Zum Beispiel Welten erschaffen, die man sich nicht vorstellen kann.

Verrückt, was Sprache alles kann! Zum Beispiel Welten erschaffen, die man sich nicht vorstellen kann. Mazen Maarouf führt uns mit der grössten Selbstverständlichkeit in solche Welten, und ebenso selbstverständlich folgen wir ihm – auch wenn unsere Fantasie dabei strapaziert wird und gelegentlich an ihre Grenzen kommt. Seine Kurzgeschichten entwickeln sich wie Träume: scheinbar logisch, aber dem wachen Verstand nicht wirklich zugänglich. Das Vertraute verschiebt sich ins Unheimliche, in jedem Satz lauert das Unvorstellbare.
 

In «Der Träger» zum Beispiel geht es um einen Mann, der sich schon als Kind entschieden hatte, nicht mehr zu lächeln. Selbst der sterbenden Mutter verweigerte er ein letztes Lächeln, was zu lebenslangen Schuldgefühlen führt. Um peinliche Situationen beim Grüssen auf der Strasse zu vermeiden, hält er den Kopf später immer gesenkt und beugt sich beim Gehen so weit nach vorne, dass er im Alter aussieht wie ein verkehrtes L und sein Rücken so dick wird «wie der eines alten Nashorns». Doch das hat schliesslich auch seine Vorteile: «Mein Rücken wurde so hart wie eine Steinplatte. Und sie dehnte sich aus. So fand ich unwillkürlich eine neue Arbeit: Ich wurde zum Geburtstagsträger. Ich stehe an einem Ort und trage die Geburtstagspartys der Kinder.»
 

In «Aquarium» wünscht sich ein Paar ein Kind. Als sich die vermeintliche Schwangerschaft als Gebärmutterentzündung herausstellt, lässt sich das Paar nicht beirren: Es hegt und pflegt den Blutklumpen, der bei der Operation entfernt wurde, und nennt ihn liebevoll «Munir», weil es davon überzeugt ist, dass es sich um einen Jungen handelt. «Munir hatte Ausstrahlung, Charisma. Immer wenn ich ihn in dem Röhrchen ansah, fand ich ihn heiter», sagt der Vater.

 
Skurril, überraschend, verblüffend, manchmal auch witzig sind diese Erzählungen. Aber das Lachen bleibt einem oft im Hals stecken. Denn was diese Einfälle hervorbringt, ist ein Milieu der Gewalt. Wie in der Geschichte, die dem Band den Titel gibt: «Ein Witz für ein Leben» erzählt von einem Jungen, der seinem Vater hilft, Witze zu erfinden. Der Vater braucht jeden Tag einen neuen Witz, denn wenn er «die Bewaffneten» nicht zum Lachen bringt, wird er verprügelt und gefoltert, vielleicht getötet. Das Kind, das sich einen starken, gewalttätigen Vater wünscht – alles, nur kein Opfer! –, versucht schliesslich, den Vater zu denunzieren, um aus ihm einen Helden zu machen.
 

Der Erzählband «Ein Witz für ein Leben» erhielt euphorische Kritiken, Maarouf wurde mit Franz Kafka und Samuel Beckett verglichen. Zu Recht. Doch Maaroufs traumartige Absurditäten führen nicht nur an die äusserste Grenze der Logik und in die Abgründe des Unbewussten. Sie sind auch literarische Realitätsbewältigung. Maarouf wurde 1978 als Sohn palästinensischer Flüchtlinge in Beirut geboren und wuchs im Libanon auf. 2011 migrierte er nach Reykjavik, nachdem er aufgrund eines Textes über den Tod eines Journalisten Morddrohungen erhalten hatte. Über sein Leben im beschaulichen Reykjavik sagt er in einem Interview: «Das sollte die Norm sein: dass man in friedlichen Zeiten lebt, dass man respektiert wird, dass man Rechte hat.»
 

Doch gerade hier holten ihn die Traumata des Krieges ein: Die ersten zwei Jahre in Island habe er fast jede Nacht geträumt. «Die Erinnerung war wie eine Bestie, die gefüttert werden wollte.» Der Erzählband ist ein Buch über diese Träume. In der absurden Fiktion findet Maarouf eine Möglichkeit, vom Leben im Krieg zu erzählen und über den Krieg und seine grotesken Auswirkungen zu lachen. Denn wer sich traue, unter der Herrschaft des Krieges zu lachen, erlebe ein Stück Freiheit, weil er dem Krieg die Anerkennung verweigere. «Nur für einen Moment.»
 

Mazen Maarouf: Ein Witz für ein Leben. Erzählungen. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Unionsverlag. Zürich 2020.