2015

MetaphoraWissenschaft

Was Literaturwissenschaft sein könnte, wenn man sie als Medienwissenschaft begreift.

Titel und Thema dieser ersten Ausgabe von Metaphora sind – natürlich – Programm. Anspruch unserer Zeitschrift ist es, die Beziehung von Medialität und Literatur zu denken, und für ein solches Unternehmen ist Friedrich Kittler weit mehr als nur ein Stichwortgeber. Kittler hat diese Beziehung als Ausgangspunkt für seine Analysen genommen, die ihn von der Literatur zum Computer und von da aus in seinem Spätwerk zum antiken Griechenland geführt haben. Nirgendwo hat er das Verhältnis von Literatur und Medien so explizit ausgearbeitet, wie in seinem frühen Werk: Mit Aufschreibesysteme 1800 . 1900 hat er vorgeführt, was Literaturwissenschaft sein könnte, wenn man sie als Medienwissenschaft begreift und Kultur und Literatur als technische Systeme beschreibt. Dieses neue methodische Paradigma beeinflusste nicht nur die Curricula der Germanistischen Institute, die seither das Verhältnis von Medien und Literatur auf vielseitige Weise thematisieren, sondern hat auch eine neue Disziplin der Medienwissenschaft hervorgebracht, in der Medialität primär von einer technischen Seite her gedacht wird. Für eine Zeitschrift, die es sich zum Ziel setzt, neue methodische und theoretische Ansätze in diesem Bereich zu versammeln und zur Diskussion zu stellen, ist Kittlers Werk daher mehr als einschlägig. Es ist wohl kaum übertrieben, Aufschreibesysteme 1800 . 1900 rückblickend als Gründungstext einer neuen Medienwissenschaft zu bezeichnen, der eine Vielzahl von Forschungsansätzen hervorgebracht, ermöglicht und inspiriert hat – und das noch immer tut.

Was aber waren Aufschreibesysteme? Dass die Frage im Imperfekt formuliert wird verweist auf mehrdeutige Weise auf eine Historisierung. Erstens soll daran erinnert werden, dass Kittlers Werk von der Diskursanalyse und somit von einem geschichtsbewussten Blick auf Konstellationen der literarischen Produktion und Rezeption bestimmt ist. Aufschreibesysteme lassen sich schon bei Kittler nur im Imperfekt beschreiben, da sie erst aus einer historischen Distanz entdeckt werden können. Erst für den Beobachter, der aus der medientechnologischen Situation des späten 20. Jahrhunderts hervorgeht, zeigt sich, was die Aufschreibesysteme 1800 und 1900 gewesen sein könnten. Es ist sicher eines der großen Verdienste der Aufschreibesysteme, dass dieses Buch der Germanistik ihre Geschichtsvergessenheit in Bezug auf ihren eigenen Gegenstand vorgeführt hat. Indem Kittler die Frage, was Literatur ist, und wie mit Literatur wissenschaftlich zu verfahren sei zu einer historischen Frage gemacht hat, hat er der Germanistik neue Spielräume eröffnet: eine praktisch unendliche Erweiterung des Kanons, sowie die Anschlussfähigkeit an zahlreiche kulturwissenschaftliche Disziplinen.
 

Die Beiträge in diesem Band zeugen von der Fruchtbarkeit dieser disziplinären Öffnung, erinnern aber auch daran, dass Kittlers Projekt einer medientechnologisch gewendeten Diskursanalyse ihren Ursprung in der Literaturwissenschaft hatte. Und zwar in einer Literaturwissenschaft, die selbst wiederum historisch und geographisch verortet werden kann: Das Imperfekt im Titel („Was waren Aufschreibesysteme“) bezieht sich daher zweitens auch auf eine Historisierung von Kittlers eigenem Werk. Dabei geht es nicht nur darum, die Umstände und Bedingungen, unter denen die umstrittene Habilitationsschrift entstehen konnte, zu rekonstruieren. Ebenso aufschlussreich ist es, zu untersuchen, was für ein Projekt die Aufschreibesysteme waren, als Kittlers Werdegang vom Germanisten zum Medienwissenschaftler noch nicht feststand. Welche Ideen und Denkfiguren, welche methodischen und theoretischen Ansätze sind weder von Kittler selbst noch von dem, was man heute als „New German Media Theory“ bezeichnet, prominent verfolgt und weiterentwickelt worden? Was waren Aufschreibesysteme, als es sich dabei noch nicht um das Frühwerk eines „Klassikers“1 handelte, sondern um einen irritierenden Beitrag eines jungen Wissenschaftlers, dessen weitere Karriere noch nicht festgelegt war? Und welches Potential liegt hier möglicherweise noch brach?

Drittens schließlich liegt in der Vergangenheitsform auch ein kaum vermeidbares Pathos des Abschieds. Gegenwärtige Ansätze wie Medienarchäologie und Medienökologie, Bücher wie A Geology of Media oder auch Projekte wie das Media Archaeology Lab in Colorado2 stehen eindeutig in der Tradition Kittlers, sind Teil eines „Kittler Effekts“, zeigen aber auch, dass es nicht darum geht, dieses Paradigma in einer iterativen Form weiter zu führen: weiter zu löten, zu programmieren oder Schaltkreise zu entwerfen. Kittlers Projekt ist eben auch an ein Ende gekommen. Es gibt aber Wege, Kittlers Einsichten und Obsessionen – wie den Fokus auf die Materialität der Kommunikation, den Blick auf ein technisches Apriori – weiter zu entwickeln und an politische und kuratorische Praktiken anzuschließen.
 

Diese erste Ausgabe von Metaphora fragt danach, wie man, ausgehend von Kittlers Aufschreibesysteme 1800 . 1900, das Verhältnis von Literatur und Medien noch einmal neu denken kann. Die Beiträge von Moritz Hiller, Armin Schäfer und Arndt Niebisch zeigen dabei die methodische Konfiguration, die hinter der Entstehung dieses Buchs steht. Anhand von sorgfältig ausgewertetem Archivmaterial weist Hiller in seinem Text nach, dass die Aufschreibesysteme nicht aus einer Auseinandersetzung mit der Informationstheorie entstanden sind. Durch die historische Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte zeigt Hiller, dass Kittler mit Aufschreibesysteme vielmehr versucht hat, Literaturwissenschaft als eine Form von Hardware Studies zu etablieren, in der die Funktion von Literatur in Analogie zur Systematik von Schaltkreisen gesetzt wird. Armin Schäfer geht Kittlers Befund nach, dass Literatur um 1900 ein Simulakrum von Wahnsinn sei, und sich aus den Ergebnissen einer neuen Konzeptualisierung des psychischen Apparates speise. Er zeichnet den diskursiven Rahmen nach, der psychische Systeme und dementsprechend auch psychische Krankheiten als Apparaturen verstand, und aus einer Analyse der Seele die experimentelle Erforschung von neurologischen Materialitäten machte. Auch Niebisch greift Kittlers Befund auf. In seinem Aufsatz verweist er darauf, dass Kittler seinen Bezug auf die Hardware historisch in seiner Auseinandersetzung mit der Psychiatrie des späten neunzehnten Jahrhunderts verbindet: Durch die Autopsie glaubte man, Einblicke in das menschliche Nervensystem, das als materielle Hardware vorgestellt wurde, zu erhalten. Niebisch fragt, wie sich dieser Hardware-Fokus bei Kittler in einen Blick auf Informationssysteme verwandelte, wie er also vom Löten zum Programmieren kam. Er schlägt vor, Kittlers Programmierpraxis als ein Experiment mit einer technischen Textualität und als kritische Reflexion mit der eigenen medientechnologischen „Lage“ zu betrachten, aus der jener pädagogische Imperativ hervorgeht, der Kittlers Denken grundiert – und der gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Digital Humanities wieder aktuell wird: Befreiung aus der selbstverschuldeten technischen Unmündigkeit. Till Greites Antwort auf Niebischs Beitrag verweist darauf, dass Kittler nicht der Einzige war, der Informationstheorie und ästhetische Artefakte zueinander gebracht hat und wirft kritisch ein, dass die Formel von Literatur als Informationssystem nicht als eine reduktionistische Chiffre verstanden werden sollte.
 

Kittlers Schreiben wird aber nicht nur vom Computer als Medium bestimmt, sondern hat den Blick auf alle Systeme geschärft, die Daten speichern, verarbeiten und reproduzieren können. Rupert Garderers und Karin Harrassers Aufsätze zeigen, dass sich das Konzept der Aufschreibesysteme längst nicht in der Analyse technologischer Maschinen erschöpft. Gaderer geht auf eine spezielle Form der Textproduktion ein, nämlich auf das querulatorische Schreiben, das eine besonders exzessive Produktivität aus einer Pervertierung bürokratischer Praktiken ableitet. Dabei rückt eine Komponente in den Vordergrund, die auch bei Kittler für das Aufschreibesystem 1800 eine zentrale Funktion einnimmt: Der Staat als Institution, die für die schulische Ausbildung – und somit für die Kompatibilität von materieller Technologie, institutionalisierten Praktiken und „Subjekten“ – zuständig wird. Der Querulant erweist sich in Gaderers Analyse als unerwünschtes Produkt eines Aufschreibesystems, das sich auf die Hervorbringung von sich selbst verwaltenden „Bürgern“ nach dem Modell des Verwaltungsbeamten spezialisiert hat.

Einen anderen Ansatz, die Paradigmen der Aufschreibesysteme weiterzudenken, bietet Harasser an, indem sie Kittlers eurozentrische Perspektive aufbricht und ihn – in Konfrontation mit Bruno Latours Akteur Netzwerk Theorie – für eine Archäologie kolonialistischer und kolonialisierender Medien einsetzt. Am Beispiel von wiederentdeckten Tonträger und Gipsmasken, die 1931 im Zuge ethnologischer Datenerhebungen in Namibia entstanden waren, führt Harrasser vor, wie Kittlers methodischer Ansatz gerade auch für die Postcolonial Studies ergiebig sein kann, da er es möglich macht, durch die Beschwörung der Technik nicht nur die darin versteckte Gewalt, sondern auch die (auch von Kittler) ignorierte Geschichte des Widerstands zu rekonstruieren. Das Interview mit Paul Feigelfeld fokussiert noch einmal auf die Frage wie Kittler das Verhältnis von Hard- und Software als Praxis, Theorie und Ästhetik reflektiert hat und bietet einen Ausblick wie das Codewerk Kittlers veröffentlicht werden soll.
 

Was diese Beiträge verbindet, ist, dass sie fragen, wie Kittler mit Aufschreibesysteme 1800 . 1900 die Felder der Medien-, Kultur- und Literaturwissenschaft neu aufgestellt hat. Ein solcher Blick soll nicht als Bestandsaufnahme eines historischen Moments missverstanden werden, sondern Kittlers „kalten“ Blick auf die Hardware problematisieren, um diesen Blick neu einzustellen und für neue medientheoretische Fragen zu rekalibrieren. Die Frage, was Aufschreibesysteme waren, führt deshalb nicht in die Vergangenheit, sondern zielt vielmehr in die Zukunft. Dieser Band zeigt, dass damit eine Diskussion eröffnet werden kann, die aus vielen Gründen höchst aktuell ist: vor dem Hintergrund neuer theoretischer Ansätze, neuer – auch außerakademisch relevanter – Problemstellungen, aber natürlich auch vor dem Hintergrund einer neuen medientechnologischen Realität erweist sich die Re- Lektüre von Kittlers frühem ‚Meisterwerk’ als ein überraschend vielseitiges und erhellendes Unternehmen. Und daher auch als vielversprechender Ausgangspunkt für eine Zeitschrift wie Metaphora.