22. Juni 2023

WOZJournalismus

Als Veganer:innen noch die Vormundschaft drohte: Die Historikerin Iris Blum fördert aus den Archiven der Ostschweiz Überzeugungen zutage, die aktuell anmuten und nicht Antworten, sondern Anstoss zu Debatten liefern.

«Vielleicht – erleben wir es noch, dass man einen Menschen, der zu jeder Mahlzeit als Haupt-Portion Fleisch haben muss, als rückständig betrachtet.» Das schrieb der Lebensreformer und Reformhausbetreiber Gotthelf Egli 1932. Er starb acht Jahre später, lange bevor der Vegetarismus auch nur annähernd salonfähig wurde, doch rückblickend mutet sein Wunsch geradezu wegweisend an.
 

Eglis Zitat ist eines von zahlreichen Fundstücken, die die Historikerin und Archivarin Iris Blum in ihrem Buch «Monte Verità am Säntis» präsentiert. Was Blum aufgrund von Zufallsfunden im Archiv vermutet hatte, bestätigte sich bei einer gründlichen Recherche: Nicht nur auf dem Monte Verità bei Ascona, sondern auch in der Ostschweiz gab es eine rege Lebensreformbewegung. In jahrelanger Archivarbeit hat Blum historische Quellen ausgewertet, die sie nun in einer ansprechend gestalteten und bebilderten Publikation zugänglich macht. Vieles von dem, was man darin über die Lebensreform erfährt, wirkt wie ein Spiegel unserer Gegenwart. Insbesondere die Forderung nach einer ganzheitlichen Umkehr, die sämtliche Lebensbereiche betrifft, von der Ernährung über die Ökonomie bis zu Pädagogik und Kunst, steht im Zeichen eines anderen Umgangs mit der Natur.

«Ich bin selber verblüfft, wie anschlussfähig vieles ist», sagt Blum im Gespräch. Als Historikerin sei sie aber vorsichtig mit Vergleichen. «Wenn man von Kontinuitäten ausgeht, verschwinden die Unterschiede leicht in den grossen Bögen.» Bedeutende Unterschiede sieht sie vor allem in den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Ideen propagiert wurden: «Wer um 1900 sagte: ‹Ich esse kein Fleisch›, wurde verspottet und ausgegrenzt, als ‹Würzelifrässer› oder ‹Kohlrabi-Apostel› beschimpft, im schlimmsten Fall sogar pathologisiert oder unter Vormundschaft gestellt. Wenn heute jemand sagt: ‹Ich bin Vegetarierin›, ist das etwas ganz anderes. Die Forderungen nach Veränderung stehen im Kontext von Massenkonsum und Klimakrise. Das war um 1900 nicht der Fall.»
 

Naturheilkunde vs. Schulmedizin

Dennoch ist das Buch aufschlussreich, um aktuelle Debatten zu verstehen. Vor dem Hintergrund der polarisierenden Diskussionen um Alternativmedizin ist vor allem das Kapitel zur Entstehung der Naturheilkunde erhellend. Die Naturheiler (es waren fast ausschliesslich Männer) praktizierten in der Regel eine «arzneilose Heilkunst». Im Zentrum standen Licht- und Wassertherapien, aber auch bestimmte Diäten, zum Beispiel das Birchermüesli von Max Bircher-Benner.

Die meisten Naturheiler hatten keine medizinische Vorbildung. Sie waren Handwerker oder Industrielle wie der Unternehmer Ernst Ulrich Buff, der sich mit dem Bau eines innovativen Kurhauses in Herisau einen Namen machte. Ihre Therapiemethoden entstanden oft aus der eigenen Krankengeschichte und wurden auch dadurch beglaubigt. Auf diese Weise wurden zum Teil fragwürdige oder gefährliche Behandlungsmethoden entwickelt – Buffs Sohn verhungerte mit 21 Jahren an einer vom Vater auferlegten Fastenkur. Gleichzeitig aber funktionierte die Naturheilkunde als Korrektiv für eine Medizin, die zwar unglaubliche Erfolge in der Chirurgie vorweisen konnte, andere Bereiche aber völlig vernachlässigte. Für Volkskrankheiten wie Typhus, Cholera und Tuberkulose, aber auch für viele Nervenleiden gab es keine Therapieangebote.

«Die Naturheilkundler haben der Schulmedizin vorgeworfen, Krankheiten statt Menschen zu behandeln. Das war damals sicher eine berechtigte Kritik», sagt Blum. «Die Grundaxiome der Naturheilkunde, nämlich Ganzheit und Selbstheilung, sind zwei Punkte, die mittlerweile auch in die akademische Medizin eingeflossen sind.» Das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Medizin und Naturheilkunde war von Anfang an von Abgrenzung und gegenseitiger Diskreditierung geprägt – laut Blum ein konstruiertes Oppositionsverhältnis, das entstand, weil beide Seiten unter Adaptionsdruck standen.

Die Schulmedizin konnte mit der Zeit die Erfolge aus der Naturheilkunde durchaus anerkennen: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Wien der erste Lehrstuhl für Hydrotherapie eingerichtet. Viele Methoden aus der Naturheilkunde wurden verschriftlicht und in die schulmedizinischen Systeme integriert. «Das wiederum hat die Naturheilkundler verärgert. Sie sagten: ‹Die Schulmedizin vereinnahmt unsere Methoden und spricht uns die Heilerfolge ab›», so Blum. «Sie gingen in die Opposition, weil sie in der Minderheit waren und sich gegen den Vorwurf der Kurpfuscherei und Quacksalberei behaupten mussten.»
 

Die Ambivalenzen beleuchten

Ob Naturheilkunde, Ernährung, neureligiöse Bewegung oder Reformpädagogik: Die Quellen, die Blum zusammenstellt, ergeben kein einheitliches Bild und lassen keine einfachen Wertungen zu. Das ist durchaus gewollt: «Mir geht es nicht darum, eine abschliessende Geschichte zu erzählen oder die Lebensreform als gut oder schlecht, richtig oder falsch zu bewerten», sagt sie. «Ich wünsche mir vielmehr, dass sich aus dem Quellenmaterial neue Diskussionen ergeben, dass ein Austausch stattfindet.»

Nicht die Frage nach dem richtigen Leben treibt sie als Historikerin um, sondern die Möglichkeiten und Grenzen alternativer Lebens- und Wissensformen. «Mich interessieren Menschen mit visionären Ideen. Vieles an der Lebensreform war damals utopisch», so Blum. Ihre Exponent:innen rebellierten gegen den Mainstream, sie riskierten etwas. «Mich fasziniert, wie sie ihre Ideen propagierten und in der Gesellschaft zu verankern versuchten.» Aber auch die Brüche und Ambivalenzen findet Blum spannend. «Wo kippen die Ideale in Ideologien? Wie radikalisiert sich eine Gruppe? Wann wird ein Gründer zum Guru, der seine Macht ausnützt und seine Anhänger:innen finanziell und sexuell ausbeutet?»

Der Anspruch, die Ambivalenzen sichtbar zu machen, bestimmt auch den Aufbau des Buchs. Blum erzählt nicht entlang des Leitfadens einer Figur, sondern ordnet die Quellen thematisch. Das macht die lineare Lektüre anspruchsvoll, weil sich die Biografien bedeutender Lebensreformer:innen fragmentarisch über mehrere Kapitel verteilen. Dafür wird die Vielstimmigkeit der Quellen in jedem Kapitel erfahrbar, was vor allem beim Querlesen, Schmökern oder beim themenorientierten Recherchieren von Vorteil ist.

Für ein historisches Buch aussergewöhnlich ist, wie Blum sich selbst einbringt: Zwischen den Kapiteln gewährt sie Einblicke in ihre Arbeitsweise, ihre Gedanken und Gefühle. «Ich glaube nicht an die Objektivität der klassischen Geschichtswissenschaft», sagt sie. «So eine jahrelange Forschungsarbeit ist eine Entdeckungsreise in die Vergangenheit, bei der man selber Wechselbäder durchmacht. Mal hat man mehr, mal weniger Distanz zum Forschungsgegenstand.»
 

Die Luftbadehose im Museum

Die Stimme der Autorin hat auch eine vermittelnde Funktion. Es ist, als würde man an der Hand genommen und durch das für Lai:innen schwer zugängliche Labyrinth des Archivs geführt. Diese Vermittlung von wissenschaftlicher Arbeit an ein grösseres Publikum ist Blum wichtig. Deshalb hat sie zur Publikation eine Ausstellung kuratiert, in der sie zahlreiche Alltagsgegenstände der Lebensreform präsentiert. «Der Zugang ist hier noch niederschwelliger: Man kann eine Stunde durch die Ausstellung gehen und erfährt etwas über die Grundstimmung dieser Zeit. Und natürlich kann ich über die Objekte zeigen, wie die Lebensreform im Alltag greift.»

Einmachgläser und Naturkosmetik – manches, was aus der Reformbewegung hervorging, ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken; anderes, wie die Luftbadehose, ist sang- und klanglos verschwunden. Was Blums sorgfältige Recherche aber deutlich macht: Die Ideen der Lebensreform, so abwegig, lächerlich und anstössig sie den Zeitgenoss:innen erschienen, haben die Schweizer Kulturgeschichte des 20.  Jahrhunderts geprägt.

Iris Blum: «Monte Verità am Säntis. Lebensreform in der Ostschweiz 1900–1950». Verlagsgenossenschaft St. Gallen. 2022. 352 Seiten.