01. Februar 2018

SRF onlineJournalismus

Kurzgeschichten, die aktueller nicht sein könnten. In April Ayers Lawsons Buch «Jungfrau» geht es um sexuellen Missbrauch und unerfüllte Fantasien. Das Befremdende: Die Opfer stören sich vorerst nicht daran.

Endlich, so möchte man rufen, ist das Thema sexueller Missbrauch in der Öffentlichkeit angekommen! Allerdings hat die mediale Präsenz auch eine Kehrseite: In der allgemeinen Aufregung darüber, wer wen belästigt hat, ist es schwierig, die Komplexität des Problems nicht aus den Augen zu verlieren.
 

Die Abgründe erotischer Fantasien

Glücklicherweise ist zum Ende des #MeToo-Jahres 2017 der erste Erzählband der amerikanischen Schriftstellerin April Ayers Lawson auf Deutsch erschienen. «Jungfrau» versammelt mehrere Kurzgeschichten, die auf überraschende Weise von den Abgründen erotischer Fantasien, von Geschlechterrollen und Machtverhältnissen erzählen.
 

Scham und Schuld

Lawsons Protagonisten sind jung, aber nicht unschuldig. Die Kinder und Jugendlichen haben scheinbar kein Problem mit den Übergriffen der Erwachsenen. Im Gegenteil: Sie suchen den sexuellen Kontakt sogar. Aus Neugier, aus Geltungsdrang oder aus dem Wunsch nach Anerkennung.

Umso schwerer wird es für sie, mit dem Trauma fertig zu werden. Denn die bestimmenden Gefühle sind nicht Wut und Schmerz, sondern Scham, Schuld und Ekel.
 

Bilder im Kopf

Ein kleines Meisterwerk ist die titelgebende Story «Jungfrau». Dafür ist Lawson 2011 mit dem Plimpton Prize ausgezeichnet worden. Im Zentrum steht der junge Journalist Jake. Als er erfährt, dass die attraktive Sheila noch Jungfrau ist und es auch bis zur Ehe bleiben will, ist er fasziniert. Der Begriff «Jungfrau» löst bei ihm eine Kaskade erotisch konnotierter Assoziationen aus: «Er hatte Bilder im Kopf, die auszusprechen er niemals gewagt hätte: aufwachen und vor sich eine unberührte Schneedecke, frisch geschnittene Blumen, Brot im Backofen, duftend.»


Kokette Tarnung

Erst nach der Hochzeit realisiert er, dass das Gelübde eine Tarnung für Sheilas Trauma war. Hinter der Koketterie verbirgt sich die nackte Angst und hinter der vermeintlichen Keuschheit eine Missbrauchserfahrung.
Aus einer ungewöhnlichen Perspektive und mit verblüffenden Wendungen demontiert Lawson den Traum von der Jungfräulichkeit. Sie zeigt, dass sich hinter dieser uralten Fantasie von Reinheit und Unschuld eine Geschlechterordnung verbirgt, die sexuelle Gewalt geradezu provoziert.


Verführte Opfer

Dabei sind es bei Lawson auch die Opfer, die sich von diesen Fantasien verführen lassen. Die jungen Frauen und Männer, von denen sie erzählt, entwickeln ihre sexuelle Identität innerhalb dieser gesellschaftlichen Muster. Das ist zwar alles nicht neu. Die Art und Weise, wie Lawson uns daran erinnert, ist verblüffend, erfrischend und voll bissiger Komik. Obwohl ihre Heldinnen und Helden nicht immer sympathisch sind, hält sie ihnen konsequent die Treue.


Die Omnipräsenz von sexueller Gewalt

«Jungfrau» ist nicht direkt den Diskussionen zuzuordnen, die durch die #MeToo-Bewegung ausgelöst wurden. Gerade deshalb sind die Geschichten so wertvoll. Sie verfolgen in aller Ruhe und mit allen Mitteln der Kunst ein Thema, von dem man weiss, dass es eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft spielt. Wenn man die Erzählungen von Lawson liest, dann wundert man sich einmal mehr, wie es möglich war, die Omnipräsenz von sexueller Gewalt so lange zu leugnen

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April Ayers Lawson: «Jungfrau: und andere Storys». Rowohlt, 2017