15. Dezember 2016

WOZJournalismus

Wenn die Krise nicht mehr Wendepunkt ist, sondern Grundbedingung der Existenz: Samuel Becketts «Endspiel» in Bern und Anton Tschechows «Drei Schwestern» in Basel.

Im Umgang mit historischen Stücken findet sich das Theater oft in einem Dilemma: Einerseits gehören die Pflege und Neuauflage von vertrauten Klassikern unbestritten zu den Aufgaben eines Stadttheaters und werden auch vom Publikum geschätzt. Andererseits wird vom Theater zu Recht erwartet, dass es auch die sozialpolitischen Realitäten der Gegenwart im Blick behält. Doch längst nicht alle kanonischen Stoffe sind so zeitlos und allgemein, dass man sie auf sinnvolle Weise zum Spiegel unserer Gegenwart umdeuten kann.
 

Besonders heikel ist der Umgang mit den sogenannten modernen Klassikern, jenen Vorlagen also, die nicht «klassisch» genug sind, um als Grundlagentexte von allgemeiner Gültigkeit betrachtet zu werden, deren Modernität aber so weit in die Jahre gekommen ist, dass sie statt auf die Gegenwart vielmehr auf die kurze Halbwertszeit alles Modernen verweisen.

Zwei neue Inszenierungen in Bern und Basel stellen sich diesem Problem auf sehr unterschiedliche Art: Am Konzert Theater Bern hat Johannes Lepper das «Endspiel» (1957) von Samuel Beckett als intimes Kammerspiel auf der kleinen Bühne eingerichtet, und am Theater Basel wagt Simon Stone eine komplette Überschreibung von Anton Tschechows «Drei Schwestern» (1901).

Beide Autoren haben in ihren Stücken mit Darstellungstraditionen gebrochen, um ein modernes, zeitgemässes Theater zu entwickeln. Dabei begründeten sie, jeder zu seiner Zeit und auf seine Weise, Erzählformen, die heute als typisch modern gelten: Bei Tschechow wie bei Beckett findet auf der Bühne kaum Handlung statt, die Dialoge drehen sich im Kreis, und überhaupt scheint Kommunikation nur noch nach ihren eigenen Spielregeln und ohne Sinn und Ziel zu funktionieren. Die Krise, die im klassischen Theater den dramatischen Spannungsbogen bestimmt, ist hier immer schon eingetreten. Sie ist nicht Wendepunkt, sondern Grundbedingung der Existenz.


 

Draussen ist der Tod

In Bern hat man sich in dieser Spielzeit auf das Krisenhafte als Gegenwartsdiagnose festgelegt. Da ist es nur konsequent, mit «Endspiel» ein Stück zu inszenieren, das diese Hoffnungs- und Sinnlosigkeit der Moderne wie kaum ein anderes Drama auf den Punkt bringt. Die zwei Protagonisten Hamm und Clov (die zwei Nebenfiguren wurden gestrichen) vegetieren in einem «Unterschlupf», wo sie in einem absurden Spiel von Macht und Unterwerfung gefangen sind. Die Welt ist zerstört, «die Erde erloschen», ein Neuanfang ausserhalb des Bunkers also unmöglich, denn «draussen ist der Tod». Regie und die beiden Darsteller (Arne Lenk, Stéphane Maeder) lassen sich hier ganz auf Beckett ein, wobei sie sich souverän auf dem feinen Grat zwischen Slapstick und Desaster bewegen.

Diese Treue zum Original macht jedoch auch sichtbar, wie sehr das Stück seiner Entstehungszeit verhaftet ist. Die Krise, die hier imaginiert wird, entspringt den Ängsten der fünfziger Jahre, die nicht nur vom nachwirkenden Zweiten Weltkrieg, sondern auch von einem drohenden Atomkrieg bestimmt waren. Das Bühnenbild unterstützt diese historische Lesart auf diskrete Weise: Der Unterschlupf erinnert an einen Luftschutzkeller aus dem Kalten Krieg, der weisse Sand auf der Bühne an radioaktiven Niederschlag, und ein altes Tonbandgerät spielt Musik aus den fünfziger Jahren. Als Referenz ist das sehr gelungen – unklar bleibt jedoch, inwiefern uns das Stück heute etwas angeht.


Dagegen will Simon Stone in Basel dezidiert Gegenwartstheater machen. Um Tschechow gerecht zu werden, übersetzt er die «Drei Schwestern» konsequent ins 21. Jahrhundert. Das scheint auf den ersten Blick gut zu gelingen. Obwohl kaum ein Satz aus dem Originaltext übernommen wird, sind die Figuren und die Motive wiederzuerkennen. In einem Ferienhaus mit viel Glas tauchen die unglücklichen Schwestern nach gut hundert Jahren wie unerlöste Geister noch einmal auf, immer noch getrieben von der Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. Doch auch diesmal müssen sie scheitern.
 

Zu leicht, zu zahm

Es ist ein Vergnügen, dem brillanten Ensemble zuzusehen, wie es sich in den engen Grenzen des Spielfelds bewegt. Die schnelle Alltagssprache, die filmreife Szenerie und die klar konturierten Figuren bieten Unterhaltung mit Suchtpotenzial. Doch wo Tschechow das Publikum mit seiner neuen Erzählweise herausforderte und die Banalität seiner Dialoge in die Diagnose eines gesellschaftlichen Umbruchs eingebunden war, bleibt Stones Version trivial: Hier dreht sich alles um private Befindlichkeiten, die Gespräche bleiben auf dem Niveau von WG-Unterhaltungen, und die gefällige Darstellungsweise orientiert sich bruchlos an Sehgewohnheiten aus der Welt der Fernsehserien. Der Versuch klingt bestechend, wirkt in der Umsetzung aber zu leicht verdaulich und etwas zahm.