2018

MetaphoraWissenschaft

Was sind die politischen und symbolischen Strukturen, die aus Menschen 'Flüchtlinge' machen? Mit Beiträgen von Anselm Haverkamp, Jacques Derrida, Doerte Bischoff und Dana Schmalz.

Einleitung: Martina Süess

‚Der Flüchtling’ ist zur großen Herausforderung für Europa geworden: Seit die globalen Migrationsbewegungen im Sommer 2015 auch in jenen Staaten bemerkbar wurden, die bisher kaum davon betroffen waren, steht er im Fokus von Medien und Politik. Zentrale Fragen, die von allen Seiten – wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen – gestellt werden, betreffen seine Identität. Wer ist er? Woher kommt er? Ist er echt? Ist er uns ähnlich? Ist es möglich, ihn zu integrieren, und wenn ja: wie?
 

Die Künste, allen voran das Theater und die Literatur, begegnen diesem Diskurs unter anderem damit, dass sie die Flüchtlinge selbst zu Wort kommen lassen. Anstatt über sie zu spekulieren oder sie politisch zu instrumentalisieren, soll man ihnen zuhören. Fiktionale Romane und dokumentarische Berichte von Betroffenen machen die individuellen Biografien sichtbar, die sich hinter dem Begriff verbergen. Im deutschsprachigen Raum haben zahlreiche Theaterprojekte und -institutionen ihre Bühnen zum Begegnungsort von Empfangsgemeinschaft und Asylsuchenden gemacht. Auf der Bühne und im Text können Flüchtlinge auf die an sie gerichteten Fragen selbst antworten und ihre Identität mit eigener Stimme kundtun. Während eine große Zahl wohlmeinender aber naiver Erzählungen und Projekte sich ganz auf die Wirkung von anrührenden Geschichten und auf die Empathie des Publikums verlässt, werden die Gefahren und Probleme dieser künstlerischen (Selbst-) Repräsentation von Flüchtlingen in differenzierten Arbeiten schon lange erkannt und mitreflektiert. „Wäre ich eine Geschichte, wären diese Tage meines Lebens vielleicht die beste Stelle gewesen“, beschließt die türkische Journalistin Ece Temelkuran die Erzählung ihrer Flucht.1 Sie erinnert damit an die unüberbrückbare Kluft zwischen Leben und Narration, zwischen Erfahren und Erzählen, und somit auch an die Schwierigkeit, die Situation des ‚Flüchtlings’ angemessen zu erklären oder darzustellen.
 

So unerlässlich diese Geschichten sind, so verweist gerade die Aufforderung, ständig auf die Frage nach der eigenen Identität zu antworten, auf die prekäre Situation des ‚Flüchtlings’.  Einer der jungen Männer, die im Winter 2012/13 die Wiener Votivkirche besetzten, bringt das Problem in Gerald Igor Hauzenbergers Dokumentarfilm Last Shelter so auf den Punkt: „When I do not know anyone and I’m presenting my own stories [...] that means I’m getting naked. With that story, how many times do I have to be naked?“2 Gesetzlicher Schutz trotz Anonymität – das ist das Privileg von Staatsbürgern. Sie müssen sich nicht auf eine Geschichte, auf eine Biografie festlegen, sie müssen sich nicht nackt machen, um als Person wahrgenommen zu werden. Erst die prekäre Situation des ‚Flüchtlings’ macht die ständige Selbsterklärung und Identifizierung erforderlich. Unter diesem Blickwinkel werden alle Projekte, die Flüchtlinge auffordern, von sich zu erzählen, suspekt oder zumindest ambivalent.
 

Hier liegt einer der wichtigsten Einsatzpunkte historisch argumentierender Kultur- und Geisteswissenschaften: Während Politik und Kunst sich für die Identität der Flüchtlinge und für die Ursache ihrer Flucht interessieren, können sie fragen, was ein Flüchtling ist. Sie können die Bedingungen sichtbar machen, unter denen ‚Flüchtling’ zur politischen Existenzweise, zum rechtlichen Status, zur prekären Identität wird. Die hier versammelten Beiträge zeigen, wie ergiebig und relevant diese Frage ist. Sie verschiebt die Aufmerksamkeit von den Flüchtlingen auf die Empfangsgemeinschaft, von den Menschen mit Fluchtgeschichten auf die politischen und symbolischen Strukturen, die aus Menschen ‚Flüchtlinge’ machen. Die Figur des Flüchtlings, so der gemeinsame Tenor dieser Beiträge, ist eine Reflexionsfigur, die den europäischen Gesellschaften einen beunruhigenden Spiegel vorhält. Es ist ein Spiegel, der vermeintliche Ganzheiten und Natürlichkeiten als ideologische Konstrukte entlarvt, indem er die konstitutiven Brüche sichtbar macht.

 

Ausschlag zu diesem Sammelband gab ein Vortrag, den Anselm Haverkamp 2016 unter dem Titel „Allotria. Das anthropologische Apriori des Flüchtlings“ in Wien hielt, und der sich auf einen bis dahin unveröffentlichten Vortrag von Jacques Derrida aus dem Jahr 1996 bezog. Derridas „Die Gesetze der Gastfreundschaft“, mit dem wir diese Issue eröffnen, hat trotz seines relativen Alters nicht an Aktualität eingebüßt.[iii] Die ungebetenen Gäste mögen heute andere sein als in den von den Balkankriegen geprägten 90er-Jahren. Doch die Auseinandersetzung mit den „Gesetzen der Gastfreundschaft“ ist aktueller denn je, interessiert sich Derrida doch nicht so sehr für den Gast, sondern für die Unruhe, die er ins Haus bringt. Eine Unruhe, die unvermeidlich ist, weil sich die Institution der Gastfreundschaft gerade durch die Ankunft des Gastes als unzureichend und in sich widersprüchlich, als eine eigentliche Aporie erweist. Denn die Gesetze, welche die tatsächliche Beziehung zwischen Gastgeber und Gast regeln – von der Begrüßungsformel „Willkommen in meinem Haus“, die dem Fremden meist schon die neue Sprache abverlangt, bis zur Frage, wie lange ein Gast bleiben kann, ohne zum Parasiten zu werden – stehen im Widerspruch zu dem, was Derrida „die absolute Gastfreundschaft“ nennt. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass der Fremden bedingungslos aufgenommen wird, und das heißt auch: dass nicht danach gefragt wird, wer – oder was – er ist.  

Anselm Haverkamp hat seinen Wiener Vortrag für diese Ausgabe erweitert, mit der kleinen Veränderung des Titels wird der Bezug zu Derrida stärker betont. „Allotria. Das anthropologische Apriori der Gastfreundschaft“ greift das Dilemma der Gastfreundschaft auf und zeigt, dass gerade die Frage nach der Identität des Gastes – aber auch die nach der Identität des Gastgebers – dieses Dilemma nicht lösen können. Vielmehr führt uns die Begegnung mit dem Fremden vor Augen, wie sehr das vermeintlich „Eigene“ oder „Heimische“ immer schon von „Fremdem“ durchwachsen ist.  Das vielleicht wertvollste kulturelle Erbe, auf dessen Tradierung Haverkamp mit Bezug auf Aristoteles hinweist, ist keine wie auch immer geartete, identitätsstiftende ‚Leitkultur’, sondern die Praxis des „allotría“. Das heißt: ein Umgang mit Sprache, der das radikal Fremde aufnimmt, ohne es zu integrieren. Diese Art der Gastfreundschaft, so Haverkamp, braucht Geduld und muss vorbereitet werden. Nicht zuletzt sind es die Geisteswissenschaften, so Haverkamp, die für diese Vorbereitung zuständig wären. Der Aufsatz zielt letztlich auch darauf ab, darzulegen, welche Veränderungen nötig sind, damit die Universität dieser Aufgabe gerecht werden kann.
 

Wie sich „allotría“ in der Literatur konkretisiert, zeigt Dörte Bischoff in ihrem Beitrag am Beispiel der Exilliteratur. Die von ihr analysierten literarischen Texte von mehreren Generationen sogenannter deutscher Exil-Autorinnen und Autoren zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch ein poetisches Verfahren, die Bischoff als „Prothesenpoesie“ bezeichnet, nicht nur die eigene versehrte Identität repräsentieren oder kompensieren. Vielmehr wird der Exilant selbst als ein amputierter Teil imaginiert, der sowohl seinen ‚ursprünglichen Körper’ von dem er entfernt wurde – Deutschland – als auch die Empfangsgemeinschaft, zu der er nur punktuell Anschluss finden kann, mit den verdrängten „Verletzungen, Brüche[n] und Diskontinuitäten“3 konfrontiert. Dabei entdecken die Texte auf unterschiedliche Weise, dass in der Anerkennung von Brüchen schließlich auch ein produktives Potential liegt, wenn diese als Anschlussstellen verstanden werden.

Aus juristischer Sicht schließlich untersucht Dana Schmalz die Geschichte des Flüchtlingsbegriffs und die historisch bedingten politischen Implikationen. Sie zeigt, wie sich „Der Flüchtling als normative Idee“ erst im Kontext der Nationalstaaten konturiert. „Der Flüchtling“, so Schmalz, ist die Figur des „Anderen“, der durch seine Nicht-Zugehörigkeit die Grenze der nationalstaatlichen Gemeinschaft markiert. Er ist gleichzeitig aber auch die Achillesferse dieser politischen Ordnung. Sein Anspruch auf Schutz bedeutet eine Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität, vor allem aber erinnert ‚der Flüchtling’ durch seinen unfreiwilligen Status der Nicht-Zugehörigkeit an das Anfangsparadox jeder demokratisch legitimierten Herrschaftsform: Dass vor der staatlich garantierten Gleichheit und Freiheit ‚aller’ immer schon eine Unterscheidung getroffen wurde zwischen jenen, die Teil dieses politischen Körpers sind, und jenen, denen diese Teilhabe nicht zugestanden wird.

 

Was diese Texte darüberhinaus vereint, ist, dass sie aus der historischen Tiefenschärfe Erkenntnisse gewinnen, die Orientierung für gegenwärtige Praktiken geben, sei es für Praktiken des literarischen Schreibens (Bischoff), der institutionellen Lehre (Haverkamp) oder des politischen Aktionismus (Schmalz). Diese Issue versteht sich daher auch als Beitrag zu einer interdisziplinären Kulturwissenschaft, die auch bei lauten, dringenden Themen die historisch fundierte Auseinandersetzung nicht preisgibt. Die hier versammelten Beiträge zeigen, welchen Wert – nicht zuletzt auch praktischen Wert – eine solche Auseinandersetzung darstellt.

Anmerkungen

1 Temelkuran, Ece. „Aus dem Leben des aufsehenerregenden Opfers.“ Refugees Worldwide. Hg. v. Luisa Donnerberg und Ulrich Schreiber. Berlin Wagenbach 2017. 186-193. 193.
2 Hauzenberger, Gregor Igor. Last Shelter. 103 Min. Farbe. FrameLab 2015.
3 Siehe dazu auch die editorischen Notizen bei Derrida und Haverkamp in diesem Band.
 

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