Angst im Namen der Kunst
An vielen Theatern gehören psychischer und sexueller Missbrauch zum Alltag – nicht nur auf, sondern auch hinter der Bühne. Wie lässt sich dieses System aushebeln? Eine neue Studie und ein Krimi wissen Antwort.
Das Theater ist ein Spiegel der Gesellschaft. Leider im doppelten Sinn: Auf der Bühne werden die sozialen Machtstrukturen kritisiert, hinter den Kulissen hingegen werden sie allzu oft reproduziert, in manchmal geradezu hysterisch übersteigerter Form. Nepotismus, sexuelle Übergriffe, Psychoterror, verbale Gewalt … Der systematische Missbrauch von Macht gehört an vielen Theaterhäusern zum Tagesgeschäft, als hätte man es darauf angelegt, hinter der Bühne ein kritisches Lehrstück zu inszenieren.
Zwei Publikationen gehen diesem Phänomen nun auf den Grund und zeigen, wie gross der Schaden ist, der durch Machtmissbrauch angerichtet wird – menschlich, ökonomisch und künstlerisch. Die zwei Bücher könnten unterschiedlicher nicht sein, doch das Bild, das sie vom Theaterbetrieb zeichnen, sowie die Lösungen, die die AutorInnen vorschlagen, sind praktisch identisch. Dass es sich in beiden Fällen um AutorInnen handelt, die den Theaterbetrieb von innen kennen und ihm tief verbunden sind, ist ein Glücksfall. Ihre Kritik richtet sich nicht gegen das Theater an sich, sondern gegen jene zerstörerischen Kräfte, die Betrieb und Menschen ruinieren und die Entwicklung der Kunst blockieren.
Im Krimi «Nachtblau der See» lässt die Zürcher Autorin und ehemalige Schauspielerin Gabriela Kasperski ihren Kommissar Werner Meier im Schweizer Theatermilieu ermitteln. Kasperski nutzt das Krimigenre, um auf spannende und unterhaltsame Weise die Dynamik eines Systems zu analysieren, das auf Missbrauch, Intrige und Betrug gründet. Im Mittelpunkt steht ein narzisstischer Regisseur, der so geschickt agiert, dass er trotz zahlreicher Verbrechen – Vergewaltigung, Betrug, psychischer Missbrauch – kaum zu fassen ist.
Wem das zu abenteuerlich vorkommt, der kann anhand der wissenschaftlichen Studie «Macht und Struktur im Theater» von Thomas Schmidt den Realitätscheck machen. Schmidt war zehn Jahre lang Intendant am Nationaltheater Weimar, bevor er eine Professur für Theater und Orchestermanagement an der Universität Frankfurt übernahm. Seine Studie zeigt: Kasperskis Krimi ist zwar raffiniert komponiert und dramaturgisch zugespitzt, im Kern aber keineswegs überzeichnet. Die Quintessenz der beiden Bücher lässt sich in vier Punkten zusammenfassen:
1. Die Missstände am Theater sind ein strukturelles Problem
Die Ursache des Problems liegt in den «asymmetrischen Strukturen der Theater»: Der Intendant vereint alle wichtigen Machtpositionen, er bestimmt über sämtliche Ressourcen und über das gesamte Personal. Die Abhängigkeit der Mitarbeitenden, insbesondere des künstlerischen Personals, ist enorm. Diese Machtakkumulation befördert Missbrauch geradezu. Wo Macht keinen Widerstand erfährt, wird sie exzessiv.
Das führt auch dazu, dass machthungrige Intendanten jene Verbände und Gremien beherrschen, die eigentlich die Interessen der Theaterbetriebe vertreten sollten. Als Beispiel verweist Schmidt, ohne ihn namentlich zu nennen, auf den Fall des umstrittenen Berner Intendanten Stephan Märki, der 2018 unter Vorwürfen des Nepotismus zum Rücktritt gedrängt wurde – wobei Märki bis heute auch Präsident des Schweizerischen Bühnenverbands ist, von dem man laut Schmidt lange vergeblich einen Verhaltenskodex erwartet hatte.
Als Rezept gegen solche Machtakkumulation schlägt Schmidt Teamleitungen sowie eine moderne Organisationskultur mit wirkungsvollen Kontrollmechanismen vor.
Für den Deutschen Bühnenverband sei das Thema tabu, so Schmidt. Doch zumindest in Zürich erleben wir vielleicht gerade den Beginn einer auch künstlerisch aufregenden neuen Ära: Seit dieser Spielzeit wird etwa das Zürcher Schauspielhaus von einer Doppelspitze geleitet, im Neumarkttheater hat ein Dreierteam die Leitung übernommen, wie das ab der nächsten Spielzeit auch im Theaterhaus Gessnerallee der Fall sein wird.
2. Die Haupttäter sind immer Männer
Längst nicht jeder Intendant wird zum Despoten. Es handelt sich um einen ganz besonderen Typ, den Schmidt als «Machiavellist» mit «transmoralischer Disposition» und ausgeprägtem Narzissmus beschreibt. Solche psychisch auffälligen Personen könnten durch ein sorgfältiges Auswahlverfahren leicht erkannt und als Bewerber ausgeschieden werden, so Schmidt.
Doch profitieren Männer mit narzisstischen Zügen gerade im künstlerischen Umfeld nach wie vor von einem problematischen Geniemythos, wie auch Kasperski in ihrem Krimi zeigt. Selbst die Geschädigten sind vom skrupellosen Künstler fasziniert und verwechseln Macht mit Genie.
«So jemand wie mein Regisseur im Roman kann dir das Gefühl geben, du wirst Teil von seiner Vision und du schwimmst mit ihm nach oben», sagt Kasperski im Gespräch. Deshalb kann er Anschuldigungen problemlos zurückweisen. Wer ihn anzeigt, läuft sogar Gefahr, wegen Rufschädigung selbst verurteilt zu werden. Kasperski: «Wenn du ihm etwas vorwirfst, kann er immer sagen: Es ist für die Kunst, es war nötig, wir wollten das doch gemeinsam, wir wollten das spielen, und du hast mitgemacht.» Um diesen Regisseur zu stürzen, hat Kasperski für ihren Krimi einen raffinierten Plan konstruiert, über eine intrigante Gegenfigur. Ob der Plan funktioniert, wird hier nicht verraten. Er ist auf jeden Fall riskant.
Fürs echte Leben fordert Schmidt neben Leitungsteams und psychologischen Assessments im Bewerbungsverfahren zeitgemässe Aus- und Weiterbildungen im Management sowie eine Frauenquote.
3. Am schlimmsten trifft es die Frauen
Für Despoten ist die Übertretung von Regeln und Gesetzen Teil der Machtinszenierung. Doch je höher der Preis, umso grösser die Hemmung. Machtbewusste Menschen vergehen sich deshalb besonders oft an jenen Gruppen, die sich schlecht wehren können. Es ist wenig erstaunlich, dass Frauen laut der Studie besonders gefährdet sind und dass sie in hohem Mass namentlich sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind. Hier spiegeln sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Frauen auch ausserhalb des Theaters kaum vor sexueller Gewalt schützen. Echte Gleichstellung ist deshalb der beste Schutz vor sexuellen Übergriffen. Bei Kasperski muss sich auch der freundliche Fahnder Werner Meier fragen, was Gleichberechtigung in der Beziehung heisst und ob er seine männlichen Privilegien zu Hause ausnutzt.
4. Der Machtmissbrauch schadet allen
Das Hauptprodukt von Machtmissbrauch ist nicht Kunst, sondern Angst. Darunter leiden alle, nicht nur die direkt Betroffenen. Das Prinzip besteht darin, einen rechtsfreien Raum zu schaffen, in dem es jederzeit jeden und jede treffen kann. Deshalb werden alle zu potenziellen Mittäterinnen, Mitwissern, Mitläuferinnen, die Nähe zur Macht scheint der einzige Schutz zu sein. Solche Verhältnisse zerstören Menschen, Freundschaften und Karrieren. Aber sie zerstören auch den Betrieb: Schmidts Studie zeigt, wie das völlig verantwortungslose Verhalten gewisser Intendanten die Theater ökonomisch gefährdet. Wenn alles dem eigenen Machterhalt untergeordnet wird, führt das oft dazu, dass auch wirtschaftliche Interessen des Betriebs vernachlässigt werden.
Noch zeigt sich wenig Wille zur Veränderung. In Bern zum Beispiel habe man nichts gelernt, bei der neuen Theaterleitung setze man wieder auf einen «Einzelleiter», wie Schmidt in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» sagte. Trotzdem sind Schmidt und Kasperski zuversichtlich: #MeToo 2017 habe zu einem neuen Bewusstsein in der Öffentlichkeit geführt. Männer und Frauen kämpfen heute gemeinsam gegen Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt.
«Das Intendantenmodell gehört einfach auf den Müll, es hat so viel Schaden angerichtet», bringt Kasperski das Fazit von Thomas Schmidt auf den Punkt. Sie sieht es als Relikt aus einer alten Welt, die definitiv an ihr Ende gekommen ist: «Es wird untergehen, es muss untergehen.»