16. September 2021

WOZJournalismus

Geschichten, die uns am Leben erhalten: In ihren Essays würdigt Leslie Jamison die lebenserhaltende Kraft des Erzählens. Und zeigt, welchen Preis wir zahlen, wenn wir Legenden den Vorrang geben.

Warum sind wir so verrückt nach einfachen Geschichten und tun uns schwer mit Fakten, wenn sie diese Geschichten infrage stellen? Warum verbreiten sich abstruse Ideen aus dubiosen Quellen rasend schnell, während wissenschaftliche Ergebnisse selbst von Regierungen nicht immer ernst genommen werden? Der neue Essayband von Leslie Jamison wirkt wie eine Reaktion auf solche Fragen, die heute virulenter denn je sind. Dabei ist die amerikanische Originalausgabe von «Es muss schreien, es muss brennen» schon 2019 erschienen, vor der Coronapandemie.
 

Als angehende Schriftstellerin, schreibt Jamison, sei für sie ein berühmter Satz von Joan Didion leitend gewesen: «Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.» Was das bedeutet, ergründet sie in diesem Band auf ihre Weise. Der erste Essay dreht sich um einen geheimnisvollen Wal, der auf den Namen 52 Blue getauft wurde. Das Einzige, was man bis heute von ihm kennt, ist seine Stimme: 1992 wurden in einer Forschungsstation am Pazifik rätselhafte Laute aus dem Ozean aufgezeichnet. Das Lautmuster sah zwar genau wie ein Walgesang aus, es bewegte sich aber in einer anderen Frequenz. Statt zwischen 15 und 20 Hertz wie bei Walen üblich kam dieses Geräusch auf 52 Hertz herein. Das Tier sang viel zu hoch! Da keine Antworten von Artgenossen registriert wurden, ging man davon aus, dass diese den Wal nicht hörten. Anhand der Geräusche verfolgte das Forschungsteam über Jahre die Reisen dieses Wals durch die Ozeane. Doch 52 Blue blieb ein Rätsel.

Als die Ergebnisse veröffentlicht wurden, entwickelte sich plötzlich ein Kult um den unsichtbaren Wal. Eine Flut von Briefen traf beim Forschungsteam ein – Briefe von Menschen, die 52 Blue zur Projektionsfläche für ihre Sehnsüchte und Ängste machten. Manche identifizierten sich mit ihm, weil er einsam war und von niemandem verstanden wurde, andere, «weil er so rastlos oder unabhängig war». Es entstanden Skulpturen, Musikalben und Blogs, auf Flohmärkten konnte man Kassetten mit seinem Lied kaufen, und es wurden Twitterprofile in seinem Namen eingerichtet: «Ich bin so einsam. :‘( #lonely #ForeverAlone».
 

Auf dem Wal reiten

Die Legende verdeckte von nun an die Sicht auf das Tier. Doch Jamison geht es nicht darum, die Legende zu demontieren. Sie möchte wissen, was dahintersteckt. Was macht diese Geschichten so verführerisch? Was gewinnen wir, wenn wir uns ihnen hingeben? Jamison trifft verschiedene Personen, für die der Wal zum Wegbegleiter oder Lebensretter wurde. Da ist die junge Frau aus Kent, die um ihren ermordeten Bruder trauert und dank 52 Blue das Gefühl ihrer Isolation besser versteht. Ein Fotoredaktor aus Polen, der sich nach der Trennung seiner Frau den Umriss des Wals auf den Rücken tätowieren liess, weil die Geschichte von 52 Blue ihm sage, «dass das Leben weitergeht, auch wenn man allein ist». Oder auch Saskina, eine Muslimin aus New Mexico, die glaubt, dass der Wal sich nach dem Propheten Yunus sehnt, den er verschluckt hatte. Und da ist Leonora, eine Frau um die fünfzig, die sagt: «Der Wal ist alles.»
 

Leonora sieht sich in einer intimen Beziehung mit dem Wal: Sie träumt, dass sie mit ihm im Meer schwimmt, malt Bilder, auf denen sie auf ihm reitet, und ärgert sich darüber, dass viele glauben, er sei einsam, nur weil er alleine ist. Was auf den ersten Blick lächerlich wirkt, wird durch Jamisons Erzählung zur bewundernswerten Überlebensstrategie einer Frau, deren Leidensweg so hart war, dass es an ein Wunder grenzt, dass sie noch am Leben ist. Ihre chronische Darmkrankheit führte nach jahrelangen schmerzhaften Blutungen zu einem Darmverschluss, den sie nur knapp überlebte. Nach einer fünftägigen Operation lag sie sieben Wochen im Koma. Als sie aufwachte, war sie körperlich und sprachlich stark beeinträchtigt, und während der sechs Monate in der Reha bekam sie kaum Besuch. Beim Surfen im Netz entdeckte sie eines Abends 52 Blue und fühlte sich sofort mit ihm verbunden: «Die Welt schien sich vor ihr zurückzuziehen, und der Wal war wie ein Echo dieses Phänomens. Doch die Möglichkeit, dass 52 Blue wusste, dass er nicht allein war, gab ihr irgendwie Hoffnung.»

Jamison verteidigt den Hang zu Geschichten und hat keine Berührungsängste vor Themen, «über die andere die Nase rümpfen». Sie trifft Menschen, die die Reinkarnation erforschen, sich an ein früheres Leben erinnern oder ihre ganze Freizeit in einem Parallelleben in Second Life verbringen. Durch ihren eigenen Kampf gegen die Alkoholsucht, über den sie in «Die Klarheit» (2018) schrieb, habe sie gelernt, «wie wichtig es war, verschiedene Formen der Skepsis auszuschalten oder wenigstens auszusetzen», um von der Sucht loszukommen: «Skepsis gegenüber Dogmen, Klischees, standardisierten Programmen der Achtsamkeit oder Selbsterkenntnis, gegenüber den scheinbar formelhaften Narrativen, in die andere Leute ihre Lebensgeschichten verpackten.»
 

Bin ich offen? Oder bloss feige?

Seit ihrem gefeierten Bestseller «Die Empathie-Tests» von 2014 gilt Jamison als eine der interessantesten Stimmen der US-Literatur. Oft wird sie mit Susan Sontag verglichen, mit der sie viele Themen und die Vorliebe zum literarischen Essay teilt. Doch anders als Sontag, die ihr persönliches Leben aus den Texten heraushielt, steht bei Jamison das Selbstbekenntnis im Zentrum. Ihr gehe es darum, mit ihrer Erfahrung etwas zu erhellen, sagte sie in einem Interview.

Diese Motivation ist auch im neuen Band spürbar. Schonungslos, aber stilsicher konfrontiert sie uns mit den ProtagonistInnen sowie mit den Um- und Abwegen ihres eigenen Lebens. Und sie reflektiert ihre Rolle als Schriftstellerin und Journalistin und fragt: Ist diese absolute Offenheit wirklich möglich? Ist sie echt? Und ist sie überhaupt richtig? Oder handelt es sich bei ihrer scheinbaren Unvoreingenommenheit nur um Feigheit? Könnte es sein, dass sie sich einfach nicht traut, «Geschichten zu hinterfragen, die Menschen sich selbst erzählen, um zu überleben?»
 

Der eigene Blick im Teleskop

In jedem Essay lotet Jamison die Frage nach dem Verhältnis von Fantasie und Realität wieder neu aus. Sie zeigt nicht nur, was wir gewinnen, sondern auch, was der Preis ist, wenn wir den Legenden und Mythen den Vorrang geben: Wir verzichten auf Transzendenz, auf eine echte Auseinandersetzung mit dem anderen, und drehen uns stattdessen um uns selbst. Wie der Hobbyastronom Percival Lowell, von dem Jamison im ersten Essay ebenfalls berichtet: Lowell hatte durchs Teleskop Schatten auf der Venus wahrgenommen und hielt sie für Zeichen von Leben. Doch was Lowell gesehen hatte, waren seine Blutgefässe im Augeninnern, die sich auf dem Teleskop spiegelten. «Er sah kein ausserirdisches Leben; er sah den Abdruck seines eigenen Blicks.»
 

Das Schöne an den einfachen Geschichten ist eben, dass sie einfach sind: Während Wissenschaft unsere Vorstellungskraft strapaziert und uns die grosse, einheitliche Erklärung verweigert, bestätigen die einfachen Geschichten das, was wir kennen, was wir wünschen und was wir träumen.


Leslie Jamison: Es muss schreien, es muss brennen. Essays. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hanser Verlag. München 2021.