08. September 2022

WOZJournalismus

Vielleicht eines der wichtigsten Bücher der Gegenwart: Elinor Cleghorn schreibt die Geschichte der Medizin neu und zeigt, wie tief deren historischer Sexismus bis heute nachwirkt.

Pionierin der Medizin: Mary Putnam Jacobi war eine der ersten Frauen, die einen Abschluss an einer medizinischen Fakultät machen konnte. Für ihre Forschung zu Menstruationsbeschwerden wurde sie 1875 mit dem renommierten Boylsten-Preis der Harvard University ausgezeichnet.

Elinor Cleghorn ist Anfang zwanzig, als ihre Beine anfangen wehzutun. Monatelang leidet sie unter Schmerzen, die häufig so stark sind, dass sie nicht mehr gehen kann. Weil ihr Hausarzt nichts findet, meint er: «Wahrscheinlich sind es die Hormone.» Mehrere Jahre lebt Cleghorn mit schweren chronischen Schmerzen, sucht nach Lösungen bei Schul- und Alternativ- medizin – und findet nichts. Wenn sie ihre Symptome beschreibt, rollen die Fachleute mit den Augen, grinsen sie überheblich an oder seufzen.

Erst als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger ist, entdeckt eine Gynäkologin bei einer Routineuntersuchung, dass etwas mit dem Herz des Fötus nicht stimmt: Es schlägt zu langsam. Eine Blutanalyse zeigt, dass Cleghorn einen Antikörper im Blut hat, der beim Fötus einen Herzfehler verursachte. In der Folge wird alles unternommen, um die Herzfrequenz des Fötus zu erhöhen. Es gelingt. Zwanzig Wochen später bringt Cleghorn einen gesunden Jungen zur Welt – und niemand spricht mehr über den Antikörper, der sich nun in aller Ruhe an Cleghorns Herz heranmacht. Bis sie zusammenbricht und – sieben Jahre nach den ersten Symptomen – endlich gründlich untersucht wird. Die Diagnose: Lupus erythematodes, eine unheilbare Autoimmun­erkrankung, von der vor allem Frauen zwischen 15 und 44 Jahren betroffen sind. Die Diagnose ist niederschmetternd. Und doch ist Cleghorn erleichtert: Endlich wird ihr geglaubt.

Kontrolle statt Heilung

Gut zehn Jahre später legte die britische Kulturhistorikerin ihr Buch «Unwell Women» (2021) vor, das jetzt als «Die kranke Frau» auf Deutsch erschienen ist – vielleicht eines der wichtigsten Bücher der Gegenwart. Ihre eigene Erfahrung mit einer chronischen «Frauenkrankheit» hat sie dazu veranlasst, die Geschichte der Medizin neu zu erzählen. Wie kann es sein, dass eine wissenschaft­liche Disziplin den weiblichen Körper mit seinen spezifischen Leiden und Symptomen bis heute so sträflich vernachlässigt? Dass Frauen meist länger auf Diagnosen warten, viel mehr Fehldiagnosen bekommen, häufiger an chronischen Krankheiten leiden und zudem öfter falsch medikamentiert werden?

Die kurze Antwort liegt auf der Hand: Frauen werden überall dort, wo empirisch geforscht wird, tendenziell ignoriert. Was Caroline Criado-Perez in ihrer brillanten Studie «Unsichtbare Frauen» (2020) zeigt, trifft auf den ersten Blick auch auf die Medizin zu: Eine von Männern dominierte Medizin kümmert sich in erster Linie um das Wohl des männlichen Körpers und interessiert sich nicht für Endometriose, Präeklampsie oder Autoimmunkrank­heiten, die vor allem bei Frauen auftreten.

Doch was Cleghorn freilegt, greift sehr viel tiefer und ist auch weit erschütternder: Für eine am männlichen Körper orientierte Medizin ist «die Frau» nämlich per Definition «krank» und steht damit durchaus im Fokus medizinischer Interessen. Allerdings wird die kranke Frau nicht in erster Linie als Körper betrachtet, der geheilt werden soll, sondern als Körper, der kontrolliert werden muss. Schliesslich ist er unersetzlich für die Reproduktion. Dieser Wille zu Unterdrückung und Kontrolle hat die westliche Medizin seit ihren Anfängen geleitet: Geschlechter­mythen und gesellschaft­liche Normen flossen einerseits in die Medizin ein, andererseits hat sich die Medizin als besonders effektives Werkzeug für die Unterdrückung von Frauen ­hervorgetan.

Da Cleghorn auf die Geschichte der westlichen Medizin fokussiert, beginnt sie mit den Schriften des griechischen Arztes Hippokrates, der als «Vater der Medizin» gilt. Hippokrates ging davon aus, dass der weibliche Körper völlig anders funktioniert als der männliche und deshalb auch anders behandelt werden muss. In seinen Schriften zeigt sich jene pro­blematische Perspektive auf «Frauenkrankheiten», die zwar gesellschaftspolitisch bedingt war, die aber die Medizingeschichte bis ins 19. Jahrhundert prägen sollte: eine beinahe obsessive Fokussierung auf die weiblichen Fortpflanzungsorgane. «Da Frauen einzig dazu bestimmt waren, Kinder zu gebären und grosszuziehen, wurde ihre Gesundheit ausschliesslich vom Uterus bestimmt.» Die frühen medizinischen Theorien reduzierten Frauen deshalb «auf eine anonyme Masse patho­logischer Gebärmüttern».


Der verstellte Blick

Übers Mittelalter bis in die Neuzeit verstellten diese politisch motivierten Mythen und Modelle den Blick auf die tatsächlichen Körper von Frauen. Selbst als sich die Medizin zur modernen, evidenzbasierten Wissenschaft entwickelte und sich von traditionellen Körperlehren verabschiedete, konnte sie die sexistischen Vorurteile nicht überwinden. Kapitel um Kapitel verblüfft Cleghorn mit einer Fülle an Beispielen, die zeigen, wie revolutionäre wissenschaftliche Durchbrüche von den alten Mythen überlagert und vereinnahmt wurden.
Besonders aufschlussreich sind Cleghorns Recherchen zum 19. Jahrhundert: Im Zeitalter der Menschenrechte und der modernen Demokratien geht es nicht mehr darum, die Unterlegenheit der Frau nur zu erklären, sondern den Ausschluss der Frauen zu legitimieren und die männliche Vorherrschaft zu sichern. Hier beginnt ein besonders unrühmliches Kapitel der Medizin, die sich jetzt in Stellung bringt, um gegen Frauenrechte zu kämpfen und Frauen auf «ihren Platz» zu verweisen. Gewichtige Stimmen der Medizin behaupteten, intellektuelle Bildung und Politik seien für Frauen gesundheitsschädigend. Manche Ärzte sagten aber auch explizit, worum es dabei eigentlich ging: Sie warnten davor, dass die durch Bildung verdorbenen Frauen der «wahrhaft weiblichen Norm» den Rücken kehrten, sodass anständige Männer gezwungen wären, Ehefrauen «aus transatlantischen Familien» einschiffen zu lassen, «die dann in unserer Republik Mutter werden».

Der Kampf gegen Frauenrechte wurde von der Medizin aber nicht nur rhetorisch geführt, sondern auch mit physischer Gewalt: Frauen, die in der ihnen zugewiesenen Rolle nicht glücklich waren oder sich auflehnten, wurden auf grausame Weise «therapiert»: Klitoris­beschneidungen, Eierstock- und Gebärmutterentfernung und Lobotomie waren Methoden, mit denen Frauen gequält, verstümmelt und nicht selten getötet wurden.


Auch für das 20. Jahrhundert kann Cleghorn an unzähligen Beispielen zeigen, wie die wissenschaftliche Forschung zur Frauengesundheit einem aggressiven Kampf gegen weibliche Selbstbestimmung zum Opfer fällt. Seit den fünfziger Jahren blüht das Geschäft mit Beruhigungsmitteln und anderen Psycho­pharmaka, die vor allem Frauen mit unbekannten Leiden verschrieben werden. Selbst wenn sie einzelnen Frauen helfen mögen: Das Ziel ist auch hier nicht das Wohl der Patientin, sondern die Erhaltung einer bestimmten Geschlechterordnung, in der die Frau als angenehme, verfügbare Partnerin sich in ihr weibliches Schicksal als Mutter und Hausfrau fügt.
«Die kranke Frau» ist deshalb so brisant, weil Cleghorn zeigt, wie das historische Erbe die Medizin bis heute belastet. Nicht nur in der Forschung, auch in der medizinischen Praxis gelten nicht alle Körper gleich viel. Besonders betroffen von dieser empörenden Ungleichbehandlung sind Frauen, die als nicht weiss gelesen werden: Bei ihnen überlagern sich sexistische und rassistische Vorurteile, was oft zu einer besonders schlechten medizinischen Versorgung führt: «In Grossbritannien sterben Schwarze Frauen fünfmal häufiger an Komplikationen in der Schwangerschaft und bei der Geburt als weisse. In den USA liegt die Mütter- und Säuglingssterblichkeit in der Schwarzen Bevölkerung höher als in sämtlichen Indus­trie­ländern der Welt.»

Diese Diskriminierung geschehe oft unbewusst und habe strukturellen Charakter, deshalb sei es so wichtig, dass die Medizin sich ihrer Geschichte stelle: «Die Medizin arbeitet beständig an der Verbesserung von Praxis und Leitlinien, schleppt aber im Hinblick auf physische und psychische Erkrankungen von Frauen ein langlebiges Erbe mit sich, das sie erst noch zerstören muss.»


Zuhören, nicht nachplappern

Wie diese Aufarbeitung geschehen kann, führt Cleghorn selber vor. Ihr Buch ist nicht nur eine Geschichte der Unterdrückung, sondern auch eine Geschichte des Widerstands. Neben den dominanten Stimmen, die die Medizin zu einem Werkzeug einer patriarchalen Ordnung machten, gab es immer auch solche, die sich dagegen zur Wehr setzten und neue Wege gingen. Die meisten dieser Pionier:innen waren Frauen. Sie haben sich – oft gegen massiven Widerstand – Zugang zu medizinischem Wissen verschafft, haben Mythen durch empirische Forschung widerlegt, nicht selten waren sie auch Betroffene. Statt irgendwelche Theorien nachzuplappern, haben sie das gemacht, was wissenschaftliches Arbeiten eigentlich auszeichnet: Sie haben hingeschaut, und sie haben zugehört.

Und sie waren damit oft erfolgreich. Eines von unzähligen Beispielen, die Cleghorn aufführt, ist Mary Putnam Jacobi, eine der ersten Ärztinnen überhaupt, die einen Abschluss an einer medizinischen Fakultät machen konnten. Sie widerlegte die damals populäre Behauptung, dass geistige Bildung Frauen krank mache und zu Unfruchtbarkeit und Menstruationsstörungen führe, durch datenbasierte klinische Forschung: Sie analysierte Fragebögen, die sie von einer grossen Zahl von Frauen anonym hatte ausfüllen lassen. So konnte sie zeigen, dass «der weibliche Verstand während der Menstruation in keiner Weise eingeschränkt war» und intellektuelle Tätigkeit die Gesundheit der Frauen eher verbesserte als verschlechterte. 1875 erhielt sie dafür den renommierten Boylston-Preis für Medizin von der Harvard-Universität.


Cleghorns Geschichte konzentriert sich auf den angelsächsischen Raum. Das ist zwar schade, aber angesichts der Fülle des Materials verständlich. Doch vielleicht ist dieses Buch nur ein Anfang. Die kulturwissenschaftliche Aufarbeitung der Medizin erlebt seit einigen Jahren einen Boom, und zahlreiche Schriftstellerinnen – wie Siri Hustvedt, Lisa Olstein, Anne Boyer – haben bereits Werke vorgelegt, die von der medizinischen Forschung zur Kenntnis genommen werden. Es ist also zu erwarten, dass das Thema demnächst auch im deutschsprachigen Raum für ein breites Pu­blikum aufgearbeitet wird. An brisantem Mate­rial dürfte es nicht mangeln.


Elinor Cleghorn: Die kranke Frau. Wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen». Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2022. 496 Seiten.