17. November 2022

WOZJournalismus

Als Kind war ihre Mutter für sie eine fremde Frau – nun hat Andrea Roedig einen beeindruckenden Roman über sie geschrieben.

Die Welt, in der die kleine Andrea Roedig aufwächst, ist wie gemacht fürs Fotoalbum. Es ist die perfekte Familie der sechziger Jahre: genug Geld, traditionelle Rollenbilder und eine gute Portion Glamour. Der Vater hat den erfolgreichen Familienbetrieb übernommen, eine Metzgerei. Während er hinten fürs Grobe zuständig ist, arbeitet die Mutter vorne im Laden. Er ist ein Draufgänger mit Porsche, sie ist «die Schönste». Von morgens bis abends steht die ausgebildete Modefachverkäuferin, stilsicher zurechtgemacht, als Chefin hinter dem Tresen: Sie ist «die perfekte Frau», der Laden «ihr Laufsteg». Man macht Ferien in vornehmen Hotels, die zwei süssen Kinder werden mit teurem Spielzeug überhäuft und modisch ausstaffiert.

Als Andrea zehn Jahre alt ist, bricht die schöne Welt zusammen. Das Geschäft geht bankrott, die Eltern sind beide arbeitslos und beginnen zu trinken. Der Vater wird grob, meist glänzt er aber durch Abwesenheit. Man kann sich keine Wohnung mehr leisten, die Kinder ziehen mit der Mutter von Hotel zu Hotel und nehmen, «wenn möglich, ebenerdige Zimmer, um am nächsten Morgen aus dem Fenster aussteigen zu können». Die einst so strahlende Frau leidet an Tablettensucht, psychotischen Wahnvorstellungen und Angstattacken und verschwindet schliesslich, nachdem ihr die Kinder vom Schwiegervater weggenommen worden sind, ganz von der Bildfläche. «‹Mami nicht aufzufinden› steht in meinem Tagebuch. ‹Ich habe keine Mutter›, gewöhnte ich mir mit der Zeit an zu sagen und zu denken.»
 

Weiche Hölle

Nachdem die Mutter weg ist, werden die Kinder hin und her geschubst. Niemand will sie haben. Zuerst leben sie bei den Grosseltern, wo sie für das Scheitern der Eltern gleich noch einmal büssen müssen: «Die Grosseltern reglementierten alles, um die verzogenen Gören an das echte Leben zu gewöhnen. Die Brotscheiben waren abgezählt, nur einmal in der Woche durfte gebadet werden, ich musste die Jungsunterhosen meiner Cousins tragen und schämte mich in der Umkleidekabine beim Sportunterricht.» Weitere Stationen sind die Gesellenbude des Vaters, «in der Maden unter dem Teppich krochen, Pornoheftchen herumlagen und die Gesellen sich mittags mit blutigen Stiefeln für ein Schläfchen» aufs Bett schmissen, und schliesslich Kinderheim, Internat und am Wochenende «Oma Adler», die Grossmutter mütterlicherseits. Sie wird als Rettung empfunden, aber ein echtes Zuhause bietet auch sie nicht: «Es war die weiche Hölle.»

Die Mutter taucht zwar sporadisch auf, doch erst als Erwachsene versucht Roedig, wieder richtig mit ihr in Kontakt zu treten. Nach deren Tod fragt sie sich: Wer war diese fremde Frau? Es wirkt fast übermenschlich, dass es Roedig nach dem Drama ihrer Kindheit überhaupt gelingt, diese Frage zu stellen. Naheliegender wäre eine Abrechnung, eine Aufarbeitung der eigenen Verletzungen oder zumindest die vorwurfsvolle Frage: Warum hast du mir das angetan?
 

Doch Roedig beginnt ihren Roman «Man kann Müttern nicht trauen» nicht bei sich, sondern bei der Mutter. Sie studiert Fotos, liest Tagebucheinträge und Briefe – sowohl ihre eigenen als auch die der Mutter –, um von einem Leben zu erzählen, in dem sie selbst wohl nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Trotz dieser Kränkung gelingt es ihr, den eigenen Schmerz im Zaum zu halten und das Porträt einer Frau zu zeichnen, die sowohl Klischee als auch Rätsel ist. Vulgär und überirdisch zugleich, eine Verkörperung des weiblichen Ideals ihrer Zeit, aber vermutlich auch ein trauriger Beleg für die exorbitanten Kosten und Kollateralschäden, die dieses Ideal verursachte.


Schuld und Schmerz

«Es war schwer, diesen Text zu schreiben», erklärt Roedig im letzten Kapitel. «Mütter interessieren mich nicht, denke ich. Viel zu verkitscht, diese Mutterliebesbrühe.» Was ihr mit dem autofiktionalen Roman gelingt, ist das Gegenteil von Kitsch: Mit grösster Sorgfalt und einem fast erschütternden Willen zur «Ehrlichkeit» sortiert sie das Material und ordnet es zu einer Geschichte, die weit über ihre persönliche Biografie hinausweist. Es ist eine Geschichte über Familienträume im 20. Jahrhundert, über Schuld und Schmerz, und natürlich darüber, was es heisst, wenn eine Mutter verschwindet.

Doch die grösste Stärke liegt darin, dass Roedig auch als Schriftstellerin noch Journalistin bleibt. Zwar erzählt sie uns die eine, herausragende Geschichte, den bewegenden Einzelfall. Sie hat aber nicht nur in der eigenen Vergangenheit recherchiert, sondern auch mit zahlreichen Leuten gesprochen, die Ähnliches erlebt haben. Auch wenn diese Auseinandersetzung im Roman nicht erwähnt wird, gibt sie der Geschichte eine Tiefe, die aufjeder Zeile und in jeder dramaturgischen Entscheidung spürbar ist: Hier schreibt zwar eine Betroffene, aber gleichzeitig auch eine Expertin.


Andrea Rödig: Man kann Müttern nicht trauen. Roman. DTV Verlag. München 2022. 240 Seiten.