19. März 2015

WOZJournalismus

E.T.A. Hoffmann: Der goldne Topf

Die einen bezeichnen es als Drogenbuch, die anderen als die Meisternovelle der Romantik: E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen «Der goldne Topf» ist auf jeden Fall die Ausgeburt eines Rauschs, und dass Hoffmann sein «Mährchen aus der neueren Zeit» unter Alkoholeinfluss fabuliert hat, ist nicht auszuschliessen.

1814, während Dresden Schauplatz der Napoleonischen Kriege ist, erfindet er ein Dresden, in dem wackere Beamte und titelsüchtige Gelehrte ein beschauliches Leben führen, der verträumte Student Anselmus jedoch in den Strudel fantastischer Verführungen und gefährlicher Zauberkräfte gerät. Von der Arbeit in der Privatbibliothek des königlichen Archivars Lindhorst verspricht sich Anselmus gute Karriereaussichten, vielleicht sogar einen Hofratstitel.
Doch was er dort lernt, ist von ganz anderer Art. Lindhorst erweist sich nämlich als Salamander aus dem sagenhaften Atlantis, und sein wahres Ziel ist es, Anselmus mit seiner Tochter, dem grünen Schlänglein Serpentina, zu vermählen. Die Bibliothek wird zum Schauplatz der Verführung und Erpressung. Mit Zaubertinte und elektrischen Funken, mit erotischem Geflüster, grausamen Foltermethoden und dem verlockenden Versprechen auf ewige Liebe und ein Leben in Atlantis wird Anselmus von der bornierten Realität der Bürokraten in ein magisches Fantasiereich gelockt.

Ob das Märchen gut ausgeht oder ob Anselmus’ Verschwinden im ewigen Garten der Lüste eher Anlass zur Sorge ist, bleibt offen. Sicher ist, dass Hoffmann selbst nicht jede Form von Drogenkonsum idealisiert hat, sondern sich ganz bewusst von jenen Säufern distanzierte, die im Rausch stolpern, lallen und die Kontrolle verlieren. Wie er es selbst geschafft hat, neben seiner enorm produktiven Tätigkeit als Schriftsteller, Komponist und Maler und seinen regelmässigen Zechgelagen seine Arbeit als Jurist – er war immerhin Kammergerichtsrat – auszuüben, ist ein Rätsel. Sein Doppelleben ähnelt allerdings weniger dem verträumten Anselmus als viel mehr dem raffinierten Lindhorst, dem es gelingt, in beiden Welten zu Ruhm und Ehre zu gelangen.


Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Der goldne Topf. 
dtv. München 1997.