06. Mai 2021

WOZ BeilageJournalismus

Muss man die elterlichen Gefühle abspalten, um kreativ wirken zu können? Die Künstlerin Johanna Faust hat aus ihrer persönlichen Spurensuche ein intimes Filmdebüt gewonnen.

Als Johanna Faust mit den Aufnahmen für ihren Film beginnt, weiss sie wenig übers Filmemachen. Die Kamera hat sie von einer Freundin ausgeliehen. «Ich hoffe, es nimmt den Ton auf», sagt sie in einer der ersten Einstellungen. Sie hat gerade ihre Mutter vom Flughafen abgeholt und die Kamera so am Armaturenbrett des Autos installiert, dass sie die Mutter gut im Bild hat. Leicht verschwommen zwar, doch das ist nicht so wichtig.
 

Denn was Faust vorhat, ist kein Kinofilm. Sie ist auf der Suche nach etwas ganz anderem. Sie möchte verstehen, warum ihr das Muttersein so schwerfällt. Warum sie sich nicht erfüllt fühlt, sondern leer und unglücklich. Und warum es ihr jetzt, wo sie die Gelegenheit hätte, in Oxford Kunst zu studieren, doch nicht gelingt, Mann und Kinder für eine Weile zu verlassen. Hat es etwas mit ihrer eigenen Mutter zu tun? Mit unerfüllten Sehnsüchten und nie überwundenen Traumata, die sie unbewusst von der Mutter übernommen hat?
 

Hartnäckig, doch voller Liebe

Um das herauszufinden, wird Johanna Faust zur Filmemacherin. Das Verhältnis zur Mutter ist distanziert. Die gesundheitlich angeschlagene Frau lebt seit langem wieder in den USA, wo sie herkommt. Dass sie eine unglückliche Kindheit hatte, ist zwar kein Geheimnis, aber darüber zu sprechen, fällt Mutter und Tochter schwer. Also entscheidet sich Faust, eine Kamera mitzunehmen: «Das würde meine Mutter vielleicht daran hindern, der Auseinandersetzung auszuweichen und davonzulaufen.»
Der Plan ging auf. Johanna Fausts Film «I’ll Be Your Mirror» ist das Dokument einer hartnäckigen, aber liebevollen Annäherung an eine Mutter, die aufgrund ihrer eigenen inneren Leere nicht wirklich präsent war. Was als Selbsterfahrungsprojekt beginnt, nimmt so schon bald eine erste, überraschende Wendung. In den Mittelpunkt rückt mit Margaret eine Frau, deren Leben von Brüchen und Extremen gezeichnet ist. Aufgewachsen in grossbürgerlichen Verhältnissen auf Staten Island, wird sie im Alter von fünf Jahren von der Familie getrennt, als ihre Mutter am Goetheanum in Dornach Kunst studieren will. Ihr Bruder Benedict kommt in ein Internat, Margaret wird bei zwei Erzieherinnen in Dornach untergebracht. Die Mutter, die in einem anderen Haus wohnt, sieht sie nur selten.


Faust forscht weiter und erkennt ein Muster: Auch ihre Urgrossmutter hat die engen Normen ihrer grossbürgerlichen Herkunft überschritten, hat ein künstlerisch und intellektuell erfülltes Leben gesucht und gefunden. Aber auch bei ihr war der Preis für die Selbstverwirklichung der Verzicht auf die Bindung zu ihren Kindern. Und nicht nur die Mütter, auch die Väter haben für die Karriere ihre privaten Gefühle geopfert. «Was für eine Liebe er da herausströmen konnte in den Raum, in den grossen Saal, Weltenliebe, wirkliche Liebe», erinnert sich Benedict an die faszinierenden Vorträge seines Vaters. Für den Sohn blieb von dieser Liebe allerdings nichts übrig. «Ich hab versagt ihm gegenüber», entschuldigt Benedict die Kälte des Vaters.
 

Viel mehr als Therapie

Ist das wirklich nötig, so fragt nun Johanna Faust: Muss man die elterlichen Gefühle abspalten, um kreativ wirken zu können? Statt nach Oxford zu reisen, macht sie sich mit ihrem Mann und ihren drei Kindern auf den Weg in die USA und weiter nach Mexiko, zur Familie ihres verstorbenen ersten Mannes. Die Familie wird zum Gegenstand der Kunst: Faust untersucht sie aus persönlichem Interesse und entdeckt sie als Quelle für die künstlerische Arbeit.
 

Dass aus diesem filmischen Reisetagebuch viel mehr wurde als ein therapeutisches Projekt, liegt vor allem daran, dass Johanna Faust das, was sie beschäftigt, nicht verfilmt, sondern dass sie es filmisch untersucht. Was sie mit der Kamera betreibt, ist künstlerische Forschung im eigentlichen Sinn. Und sie beweist mit diesem Film: Kunst braucht keine pseudowissenschaftlichen Methoden, keinen Jargon und kein Labor, um unser Wissen über Mensch und Gesellschaft zu erweitern. Was es braucht, ist ein künstlerischer Zugang zur Welt, ein echtes Interesse am Gegenstand und den Mut, sich auf ein Abenteuer einzulassen, dessen Resultat ungewiss ist.
 

«I’ll Be Your Mirror» ist zwar Fausts Filmdebüt, doch sie bringt eine langjährige Erfahrung als bildende Künstlerin mit. Seit ihrer Jugend beschäftigt sie sich mit Malerei, später studierte sie Kunst in Basel und Farbgestaltung in Zürich. Die Auseinandersetzung mit dem Visuellen schlägt sich in einer bezaubernden Bildsprache nieder. Faust dokumentiert ihre Reise mit Aufnahmen, die roh, sinnlich und verblüffend intim sind, die aber die Grenze zum Voyeuristischen niemals überschreiten. Der Film ist das Gegenteil einer Abrechnung: Es ist die Annäherung einer Frau an ihre Mutter und die Versöhnung einer Künstlerin mit ihrem eigenen Muttersein.


I’ll Be Your Mirror. Regie: Johanna Faust. Schweiz 2020.