2012

Cambridge Scholars PublishingWissenschaft

Die plötzliche Nähe des Fremden in Fontanes 'Effi Briest'.

Martina Süess: Der Chinese im Schlafzimmer. Die plötzliche Nähe des Fremden in Fontanes ‚Effi Briest’. In: Yael Almog/ Erik Born (Hg.): Neighbors and Neighborhoods: Living Together in the German Speaking World. Cambridge Scholars Publishing 2012. S. 75–96.

I.
Der rätselhafte Chinese, der durch Fontanes Effi Briest spukt, ist sicher die aufregendste Figur des Romans. Seine enigmatische Gestalt verführt zu hermeneutischen Lektüren: so wird er vorzugsweise als Allegorie für Effis Unbewusstes, insbesondere für ihr erotisches Begehren und die damit verbundenen Schuldgefühle,1 oder als perfides Machtinstrument Innstettens ausgelegt.2 Diese psychologisch angeleiteten Ansätze sind zwar einleuchtend, greifen jedoch zu kurz. Nicht nur für Effi sondern auch für andere Romanfiguren spielt der Chinese eine Rolle. Und die häufig zitierte Behauptung, Innstetten installiere mit seinen Gespenstergeschichten „eine Art Angstapparat aus Kalkül“3 um seine junge Frau besser beherrschen zu können, stammt ausgerechnet von Major Crampas, der mit dieser Unterstellung den Ehemann diffamiert, um seine eigenen Interessen – die Verführung eben dieser Frau – durchzusetzen. So hat Ingrid Schuster überzeugend argumentiert, dass der Chinese ebenso gut als Allegorie für Innstettens unabgeschlossene Vergangenheit – seine unglückliche Liebe zu Effis Mutter – gelesen werden kann, und dass er darüber hinaus „für jede Person, die mit ihm in Berührung kommt, Bedeutung“ hat.4 Das chinesische Gespenst, darauf verweisen die konträren Interpretationen, bleibt ein Mysterium, das jeder abschließenden Deutung widersteht. Dennoch kann es gelesen werden: in der jüngeren Forschung zeigen diskursanalytische Ansätze, dass der Chinese vor dem Hintergrund der deutschen Kolonialgeschichte als kollektives Phantasma imperialer Begehrlichkeiten und den damit verbundenen Ängsten vor einer „Gelben Gefahr“ Kontur gewinnt.5 Poetologische Fragestellungen lenken den Blick mehr auf die Funktion des Fantastischen im realistischen Roman, und machen die narrativen Techniken sichtbar, die an der nach-romantischen Geisterbeschwörung und an der Produktion eines gesellschaftlichen Imaginären beteiligt sind.6 Ich werde zeigen, dass sich der Chinese gerade durch seine doppelte Fremdheit – als Asiate und Gespenst – als epochenspezifische Figuration des Nachbarn zu erkennen ist: als etwas denkbar Fremdes, das plötzlich in nächster Nähe auftaucht. Als Exote einerseits, der die geographische Distanz überwindet und den Orient nach Ostpommern bringt. Als Gespenst andererseits, das sich über eine lineare Zeitordnung hinwegsetzt und die Differenz von Diesseits und Jenseits in Frage stellt.
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