02. Mai 2024

WOZJournalismus

Kunst soll «authentisch» sein. Dieser Anspruch ist nicht neu. Doch das Konzept von Identität hat sich verändert – das schlägt sich auch in der Literatur nieder.

«Als ich am 9. Februar 2016 erfuhr, dass ich an einer hochaggressiven Form von Brustkrebs erkrankt war, wusste ich sofort, dass ich darüber schreiben würde – auch wenn ich noch keine Ahnung hatte, wie, unter welchen Umständen und welche Form dieser Text dereinst haben könnte.»
 

Drei Jahre nach ihrer Krebsdiagnose veröffentlichte Ruth Schweikert «Tage wie Hunde». Jetzt, fast ein Jahr nach ihrem Tod, wirkt das Buch noch einmal anders als damals, als Schweikert 2019 (vorübergehend) geheilt in der Öffentlichkeit zu erleben war. Doch schon damals war die Tatsache, dass es sich um einen authentischen Bericht einer Kranken handelt, für die Rezeption relevant. Selbstverständlich kann man einwenden, dass diese «authentische» Wirkung kalkuliert ist. Durch literarische Verfahren werden Realitätseffekte erzeugt, die Authentizität suggerieren. Wenn Schweikert zum Beispiel private Handynachrichten einbaut und die Tippfehler nicht korrigiert. Oder wenn sie in der erzählten Zeit hin und her springt und so die «Verzettelung», die ihr durch die Krankheit widerfährt, erlebbar macht. Doch ist das schlecht? Oder dem Stoff angemessen?
 

Konjunktur des autobiografischen Schreibens

Als der Text erschien, fiel es einigen Kritiker:innen schwer, darüber zu urteilen. Die «Unmittelbarkeit und Ungebrochenheit», mit der «ein persönlicher Schicksalsschlag dargestellt» werde, führe zu einer «gewissen Befangenheit», brachte es der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle auf den Punkt. Diese Scheu wirkt angemessen, sie zeigt aber auch: Es macht einen Unterschied, dass der Text als «authentisch» wahrgenommen wird.
 

Authentizität ist einer der verbrauchtesten Begriffe unserer Zeit. Er ist überall präsent und oft positiv konnotiert. Auch in der Literaturkritik wird er eingesetzt, um ein Werk, einen Stil oder die Wahl eines Stoffes zu loben. Dabei kann es um verschiedene Aspekte gehen, häufig aber wird der Erfahrungshorizont der Autor:in zum wesentlichen Kriterium: Hat er/sie das wirklich erlebt? Die Lebenserfahrung und der biografische Hintergrund werden zum Massstab für die Glaubwürdigkeit, die Relevanz oder die moralische Legitimität von Literatur. Im Gegenzug wird über diesen «Authentizitätsterror» auch viel geschimpft: Die Literatur verkomme zu einer Nabelschau der Autor:innen, was vor allem der Vermarktung diene. Weil nicht die Texte, sondern biografische Bezüge im Fokus stünden, würden Künstler:innen dazu animiert, ihr Privatleben zu plündern, um daraus mittelmässige Kunst zu machen. Und letztlich sei «authentisch» ein Zuschreibungsphänomen, das eintrete, wenn sich Rezeptionserwartungen erfüllten. Es gehe also um die Reproduktion von gefälligen Stereotypen und keinesfalls um Originalität, wie der Begriff suggeriere.

Angesichts der enormen Konjunktur, die das autobiografische Schreiben gerade erlebt, ist die Kritik verständlich, sie zielt aber am Punkt vorbei. Denn es ist nicht die Literatur, die den «Authentizitätshype» hervorgebracht hat. Überhaupt kann die Sehnsucht nach Authentizität nicht als oberflächliche Mode abgetan werden. Sie ist vielmehr ein wesentliches Merkmal der Moderne. Um mit dem Soziologen Charles Taylor zu sprechen: «Wir leben in einer Kultur der Authentizität.»
 

Den Ursprung dieser Kultur verortet Taylor allerdings schon im ausgehenden 18. Jahrhundert, als sich die Ständegesellschaft und die moralische Autorität der Kirche auflösten und sich ein neues Menschenbild etablierte. Vor allem bei Jean-Jacques Rousseau sieht Taylor jenes Ideal ausformuliert, das später als Authentizität bezeichnet wird. Dieses Ideal gründet auf der Vorstellung, «die Menschen seien mit einem moralischen Sinn ausgestattet, einem intuitiven Gefühl für das, was richtig und was falsch ist». Nicht mehr Gott, sondern die eigene, «innere Stimme» wird zur zentralen Instanz für die richtige Lebensweise. Dass sich die Idee einer inneren Moral so wirkmächtig durchsetzte, hängt laut Taylor eng mit dem Individualismus und der aufklärerischen Idee von Freiheit durch Selbstbestimmung zusammen. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich der Gedanke, «dass jeder von uns seine eigene originelle Weise des Menschseins hat». Die Treue zu sich selbst wird zur moralischen Pflicht: «Wenn ich mir nicht treu bleibe, verfehle ich den Sinn meines Lebens; mir entgeht, was das Menschsein für mich bedeutet.» Die eigene Identität ist nicht mehr sozial abgeleitet – durch die Zugehörigkeit zu einem Stand, einer Familie, einer Berufsgruppe –, sondern sie muss «im Innern erzeugt werden» und entfaltet sich durch eine authentische Lebensweise.


Dieser Wandel hat enorme Auswirkungen auf die Kunst und führt laut Taylor zu einem «Wendepunkt der Literaturgeschichte». Einerseits bricht das Bezugssystem zusammen, an dem sich die Kunst orientiert hat: Bis in die frühe Neuzeit gab die Heilsgeschichte den Deutungsrahmen vor. Die Dichter hielten sich an vorgegebene Regeln und Interpretationskonventionen, die auch dem Publikum vertraut waren. So thematisiert die Barocklyrik meist das Vanitas-Motiv, wobei Blumen für die Vergänglichkeit alles Irdischen stehen, die Nacht für das Böse, der Apfel für den Sündenfall und so weiter. Die Bedeutungen sind festgelegt und erschliessen sich dem Publikum unabhängig davon, wer das Gedicht verfasst hat. Die Kunst der Moderne bringt eine ganz andere Form von Autor:innenschaft hervor. Sie orientiert sich nicht mehr an der göttlichen Ordnung, sondern an der inneren Stimme des Künstlers.


Andererseits eröffnet dieses neue Menschenbild der Literatur ganz neue Räume und weist ihr neue Aufgaben zu. Denn es ist nicht so einfach, diese innere Stimme zu hören und ihr zu folgen. Der Einzelne muss tief in sich hineinhorchen, um seine originelle Bestimmung durch all den Lärm der öffentlichen Meinungen und Vorstellungen hindurch zu hören. Und genau darin findet die Kunst, und insbesondere die Literatur, nun ihre neue Aufgabe: Vom klassischen Entwicklungsroman bis zur romantischen Lyrik erkunden die Dichter, wie das Ich sich entdeckt, entfaltet und behauptet – oder wie die Selbstfindung scheitert. Sie müssen dafür ihre eigene, künstlerische Sprache finden. Kunst muss von nun an «authentisch» in der Form sein.
 

Identität wird als fragil erlebt

Diesen Anspruch an Kunst haben wir noch heute. Doch die Welt hat sich verändert. Möglicherweise befinden wir uns mitten in einem Wandel, der dem Wandel um 1800 in nichts nachsteht. War es damals die Säkularisierung, so ist es heute die Pluralisierung, die eine ganz neue Form von Identität hervorbringt. Pluralisierung bedeutet nämlich nicht nur, dass Menschen mit unterschiedlichen Identitäten – kulturellen, religiösen, ethnischen und so weiter – nebeneinander leben. Pluralisierung heisst, dass verschiedene Identitäten gleichwertig nebeneinander existieren. Und das bedeutet: Es gibt keine selbstverständlichen Identitäten mehr. Deutlich wird das an Ausdrücken wie «cis» oder «weisser alter Mann»: Was in einer Mehrheitsgesellschaft keine besondere Benennung brauchte, weil es das Selbstverständliche und deshalb nicht der Rede wert war, wird jetzt ausgezeichnet. Die Philosophin Isolde Charim spricht deshalb von einer «Prekarisierung der Identität». Was früher nur Minderheiten erfahren haben, wird in der pluralisierten Gesellschaft zum Paradigma: Identität wird als fragil erlebt. Oder in Charims Worten: Es gibt keine «vollen» Identitäten mehr.

Authentizität bekommt deshalb eine neue Relevanz. Im 18. und 19. Jahrhundert ging es vor allem darum, wie sich der Einzelne (in der Regel ein Mann) als empfindsames oder aufgeklärtes Individuum innerhalb eines gesellschaftlich vorgegebenen Rahmens entwickeln konnte. Er sollte dabei sowohl seiner inneren Stimme treu bleiben als auch seinen Platz in der neuen, bürgerlichen Ordnung finden. Erziehung und Bildung waren die Mittel, durch die dieser paradoxe Individualismus erreicht werden sollte: Das Individuum hört zwar auf seine innere Stimme, diese Stimme harmoniert aber in der Regel mit den gesellschaftlichen Anforderungen. Die Literatur übernimmt einerseits die Funktion, diese Harmonisierung zu ermöglichen, indem sie selbst eine erzieherische Funktion übernimmt, andererseits thematisiert sie auch das Scheitern. In beiden Fällen geht es um die Frage, wie der Mensch an sich zur Gesellschaft steht. Dieser universalistische Anspruch gilt selbst da, wo die Literatur als Autobiografie inszeniert wird: Rousseaus «Les Confessions» (1782) oder Goethes «Dichtung und Wahrheit» (1811) verhandeln zwar die Entwicklung des originellen, einmaligen Individuums, aber sie verhandeln es als Exemplum: An der Geschichte ihrer eigenen Menschwerdung ergründen sie das Wesen des Menschen an sich.

Dieses universelle «man» wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinterfragt. Die Hauptkritik daran ist bekannt: Die Mehrheit der Menschen sei von diesem «man» ausgeschlossen, aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder anderer, meist als «natürlich» bezeichneter Eigenschaften werde ihnen keine authentische Entwicklung erlaubt. In den sechziger Jahren steht diese Kritik im Zusammenhang mit dem, was Charim den zweiten Individualismus nennt, und begründet nach Taylor das eigentliche «Zeitalter der Authentizität». Authentischsein heisst nun, gegen die Normen aufzubegehren. Gerade im Nichtkonformen, in der Abweichung von den bürgerlichen Idealen wird Authentizität erlebt. Und so werden jene Merkmale, die nicht dem Ideal des bürgerlichen Individuums entsprechen, zum wesentlichen Aspekt «authentischer» Identität: Die Frau steht zu ihrer Weiblichkeit, die Migrantin zu ihrer Herkunft, der Schwule zu seiner sexuellen Orientierung. Die Literatur wird nun auch ein Instrument für die Selbstermächtigung von Minderheitenidentitäten: Sie erzählt von der Subjektwerdung all jener Individuen, die im klassischen Kanon nicht vorkamen.
 

Der dritte Individualismus

Doch wenn Charim recht hat, stehen wir an einem ganz anderen Punkt. Der dritte Individualismus, jener der Pluralisierung, zeichnet sich ihr zufolge durch ein tiefes Misstrauen gegenüber jeder Form von Repräsentation aus: Das Ich will «als ganze Person vorkommen, in seiner konkreten Einzelheit – ohne jegliche Repräsentation durch etwas Allgemeines wie eine Gruppe, eine Klasse oder eine Partei». Gerade weil Identität als fragil erlebt wird, ist die Inszenierung der eigenen Identität als etwas absolut Einmaliges, Unvergleichbares und Unveränderliches so wichtig. Es geht nicht mehr darum, dass sich das Ich gegen strukturelle Unterdrückung behauptet, sondern dass es absolute Anerkennung einfordert – nicht für ein spezifisches Merkmal, sondern für sich als Ganzheit. Authentischsein heisst nun: Ich bin ich. In dieser tautologischen Formel zeigt sich das Bedürfnis, das Konzept der Identität zu retten.

Autobiografische Literatur kommt diesem Bedürfnis entgegen. Denn autobiografische Texte bieten eine geschlossene Einheit von Text und Autor:innenschaft. Das Ich, das spricht, zeigt sich in seiner spezifischen Konkretheit und steht nur für sich selbst. Natürlich gibt es Texte, die dieses Bedürfnis auf plumpe Weise befriedigen. «Wahrhaftige» Autobiografien von Stars sind dafür prädestiniert. Doch viele literarische Texte machen etwas ganz anderes: Sie setzen die Zauberkraft des Autobiografischen ein, um die Prekarisierung von Identität zu reflektieren.

Auch in Schweikerts Krebstagebuch zeigt sich das Ich in seiner Fragilität auf eine Weise, die schmerzhaft ist. Zwar zeugt der Text von der Selbstbehauptung der Schreibenden, die sich gegen die Zerstörung des Ichs auflehnt und der Sprachlosigkeit des Todes etwas entgegensetzt. Aber er zeugt auch davon, wie tief erschüttert diese Identität durch die lebensbedrohliche Krankheit wird. «Tage wie Hunde» beschreibt nicht, wie man den Kampf gewinnen kann, sondern wie es möglich ist, unter prekären Bedingungen «ich» zu sagen. Allerdings leistet der Text mehr als das. Schweikert erzählt nämlich nicht nur vom Krebs, sondern vom Sterben überhaupt: von viel zu früh verstorbenen Kindern – eigenen und fremden –, vom Tod ihres Vaters, von Fehlgeburten und von einem 92-jährigen Onkel, der auf dem Weg zum Briefkasten verstirbt, «lebenssatt».

So erzählt Schweikert anhand ihrer individuellen, konkreten Geschichte auch davon, was Menschen nach wie vor miteinander verbindet: dass wir mit der Vergänglichkeit alles Irdischen irgendwie klarkommen müssen.
 


Ruth Schweikert: «Tage wie Hunde». S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2023.

Charles Taylor: «Das Unbehagen an der Moderne». Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag. Berlin 1995. 144 Seiten. 18 Franken. Charles Taylor: «Ein säkulares Zeitalter». Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag. Berlin 2012.

Isolde Charim: «Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert». Zsolnay Verlag. Wien 2018.