2016

FinkWissenschaft

C. F. Meyers "Jürg Jenatsch" als charismatische Gründerfigur

Martina Süess: Drastische Nebenwirkungen. C. F. Meyers Jürg Jenatsch als charismatische Gründungsfigur. In: Davide Giuriato/ Eckhart Schumacher (Hg.): Ästhetik des Drastischen. Fink 2016. S. 129–145.

I.

Mit einer grausam blutigen und symbolisch überdeterminierten Szene endet Conrad Ferdinand Meyers historischer Roman Jürg Jenatsch.1 Auf dem Höhepunkt seiner Karriere wird der Titelheld mit einer Axt regelrecht geschlachtet, und die Inszenierung dieser Hinrichtung lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Schlusssequenz des Romans um einen zwiespältigen Gründungsakt handelt. Das Opfer, auf dessen Grab die neue politische Ordnung des befreiten Rätien – des heutigen Schweizer Kantons Graubündens – errichtet wird, ist der Befreier selbst: ein Partisanenkämpfer, der einst als glühender „Demokrat“ gegen die Besatzungsmächte ins Feld zog, um schließlich als tyrannischer und korrupter „Nero“ zur größten Gefahr für das durch ihn befreite Vaterland zu werden.2 Zahlreiche Anspielungen machen deutlich, dass der Mord am Despoten im Zeichen der Republik geschieht, und erst mit Jentaschs Tod ist der Umbruch zur neuen Ordnung vollbracht.
 

Das grausame Ende des Helden wurde von den Zeitgenossen scharf kritisiert. Neben der expliziten Gewaltdarstellung missfielen auch die ausgestellte Künstlichkeit und das plötzliche Umschlagen in die Fiktion. Tatsächlich weicht Meyer in dieser Schlussszene von der historischen Überlieferung ab, was insofern erstaunt, als er sich für die übrige Romanhandlung sehr genau an der zeitgenössischen Geschichtsschreibung orientiert. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass die Drastik der Darstellung – die Brutalität des Sujets, die theatralische Inszenierung und die konkrete sprachliche Umsetzung – kein reiner Selbstzweck ist, sondern dass ein wirkungsästhetisches Kalkül dahinter steht. Mit dem furiosen Ende wird zwar an eine erzählerische Tradition angeknüpft, die den Umbruch von einer despotischen Herrschaft zur Republik nicht ohne rituelles Gründungsopfer denken kann. Doch während die ‚klassische‘ Opfertheorie von einer kathartischen Läuterung ausgeht, führt der Roman ein entfesseltes Schlachtfest mit Nebenwirkungen vor. Die darauf folgende Ruhe ist gekünstelt, die Rachegeister sind nur scheinbar überwunden und die drastischen Bilder wirken nach. Faszination und Schrecken – so meine These – dienen hier nicht der Erlösung und Befreiung aus der Gewaltspirale, sondern übertragen das Charisma des Protagonisten auf eine nachgeborene Leserschaft. Eine Ästhetik der Drastik dient somit der historischen Überlieferung – wenn nicht der posthumen Herstellung – des charismatischen Gründungshelden, und wird zum Programm einer wirkmächtigen und lebendigen Historiographie erhoben.

 

II.

MitJürg Jenatsch hat Meyer nicht nur die Geschichte des Bündnerlandes literarisch aufgearbeitet. Wie die meisten historischen Romane und die Historiographie des 19. Jahrhunderts, so steht auch dieser Text im Zusammenhang mit der modernen Nationalstaatenbildung. Das Bündnerland im Dreißigjährigen Krieg eignet sich alspars pro totound ferner Spiegel für eine konfessionell und sprachlich gespaltene Schweiz, die sich im 19. Jahrhundert als Alpenland zu identifizieren beginnt und sich neben großen Nationen wie Deutschland und Frankreich zu behaupten versucht. Der Roman war ein Erfolg und avancierte schnell zur Pflichtlektüre in Schweizer Schulen, Jürg Jenatsch wurde zum Nationalhelden und zur charismatischen Ergänzung des familienfreundlichen Wilhelm Tell. Mit der Kanonisierung verblassten auch die Bedenken, und da Meyers Version bald die historischen Quellen verdrängte und Lucretias Beilhieb zum Kernbestand des Mythos erhob, schwand auch das Bewusstsein für den forcierten Umschlag in die Fiktion.

Die wissenschaftliche Forschung hat allerdings immer wieder auf die „innere Zwiespältigkeit“3 dieses Gründungsaktes hingewiesen, der sich bei genauer Lektüre nicht nur als äußerst drastisch erweist, sondern auch eine gewisse Ratlosigkeit und Unruhe hinterlässt.
[…]
 

Möchten Sie weiterlesen? Den ganzen Aufsatz gibt es als PDF Download. Oder bestellen Sie das Buch direkt beim Verlag.