Singend und tanzend das Fest der Freiheit feiern
Die Altdorfer Tellspiele sind ein bildgewaltiges Spektakel. Leider fällt in der Inszenierung alles politische Potenzial den oberflächlichen Effekten zum Opfer.
Alle vier Jahre wird in Altdorf Schillers «Wilhelm Tell» «entstaubt»: Statt auf andächtige Mythenbeschwörung oder nationalistische Heldenverehrung setzt man bei den Tellspielen am legendären Schauplatz auf innovative Regisseure von internationalem Ansehen und scheut sich nicht, das Spannungsfeld zwischen Volkslegende, klassischem Drama und politischer Gegenwart immer wieder neu auszuloten (vgl. «Gewagte Inszenierungen» im Anschluss an diesen Text).
Die aktuelle Inszenierung des deutschen Regisseurs Philipp Becker wurde bereits im Vorfeld als «bildgewaltiges Theaterspektakel» angekündigt. Das ist auf jeden Fall gelungen, im Guten wie im Schlechten: Einerseits schafft es das künstlerische Team auf beeindruckende Weise, gemeinsam mit den LaiendarstellerInnen stimmungsvolle Bilder wirkmächtig in Szene zu setzen. Farbenfrohe Kostüme, raffinierte Choreografien, ein überraschendes, aber nie aufdringliches Bühnenbild und süffige Kompositionen und witzige Licht- und Videoeffekte: Hier gibt es keine Durchhänger, keine langatmigen Provinztheaterdialoge, sondern die grosse Show.
Die Gemeinschaft als Held
Dass Becker das Theater liebt, ist offensichtlich. Er schöpft aus dem Vollen, nutzt alle Ebenen aus, die das Festspielhaus zu bieten hat, und erweitert die Bühne in jede Dimension, vom Schnürboden bis zum Orchestergraben, von der Anlieferungsrampe in der Bühnentiefe bis zur hintersten Reihe des Zuschauerraums, um dann wieder eine ganze Szene im intimen Rahmen vor dem gezogenen Samtvorhang spielen zu lassen. Dank dieser Virtuosität kann manche Klippe, an der das Laientheater oft scheitert, elegant umschifft werden.
Andererseits aber bedeutet Spektakel auch viel Lärm um Nichts oder: flottes Konsumieren statt kritischen Hinterfragens. Und leider fällt in dieser Inszenierung tatsächlich aller Sinn, alles politische Potenzial, alles Diskussionswürdige und Brisante dem oberflächlichen Effekt zum Opfer. Am schwersten wiegt dabei die unreflektierte Beschwörung des «Gemeinsamen» und der «Gemeinschaft», die schon im Programmheft auffällt. «Gemeinsam feiern wir singend und tanzend unser Fest der Freiheit (…), denn nur miteinander können wir über uns hinauswachsen», so Becker. «Das Gemeinsame» ins Zentrum zu stellen sei «2016 angesichts der weltpolitischen Situation aktueller und wichtiger denn je», und deshalb sei diesmal «der Held nicht Wilhelm Tell, sondern die Gemeinschaft». Gemeinschaft erscheint hier als ein völlig unproblematisches Konzept, das nicht weiter hinterfragt, definiert oder ausgehandelt, sondern fröhlich gefeiert wird.
Diese Unschärfe bestimmt auch die Umsetzung. Kollektive Auftritte werden ausschliesslich nach ästhetischen Kriterien choreografiert, sei es als uniformierte Masse in Stallkleidung, als chorische Mehrfachbesetzung einer einzelnen Figur, als dunkle Gruppe auf dem Rütli, als tanzendes Ensemble bei der Schleifung der Zwingburg von Uri oder als bunt zusammengewürfelte Menge bei der finalen Gründungsfeier.
Folgerichtig wurde auch die Rütliszene genau um jene Textpassagen gekürzt, die auf das grundlegende Problem, von dem die neue politische Gemeinschaft der Schweizer schon im Moment ihrer Gründung heimgesucht wird, aufmerksam macht: dass nämlich das «wir» nicht ohne Exklusion zu haben ist. Um ihre nächtliche Verschwörung und die geplante Revolution zu legitimieren, berufen sich die Männer auf dem Rütli zwar auf «unveräusserliche» Rechte, die jedem von Natur aus zustehen. Als einer der Anwesenden aber vorschlägt, man könnte sich doch auch mit den Österreichern arrangieren, anstatt ein Gemetzel zu riskieren, reagieren sie hysterisch: «Der sei gestossen aus dem Recht der Schweitzer / Wer von Ergebung spricht an Oesterreich! (…) Diess sey / Das erste Landsgesetz, das wir hier geben.» Das erste Gesetz, das sich die neue Gemeinschaft selbst gibt, richtet sich also gegen den potenziellen inneren Feind. Die Möglichkeit des Ausschlusses steht am Anfang der neuen politischen Ordnung.
«Nicht ohne Blut räumt er das Feld»
Gerade «angesichts der weltpolitischen Situation», in der die Frage politischer Zugehörigkeit und Partizipation sicher nicht mit der lapidaren Aufforderung «Feiern Sie mit!» gelöst werden kann, bietet Schillers «Wilhelm Tell» zahlreiche Anknüpfungspunkte, um über diese drängenden Fragen nachzudenken. Was dieses Stück bis heute so wertvoll macht, ist ja gerade die Tatsache, dass Schiller als enthusiastischer Verfechter der aufklärerischen Ideale dennoch den Preis nicht verschweigt, der für Revolution, Freiheit und politische Selbstbestimmung zu bezahlen ist. In seinen Stücken, insbesondere in «Wilhelm Tell», werden die unvermeidlichen Kosten stets miterzählt.
Das gilt auch für die Figur des Helden. Dass Tell auf dem Rütli nicht dabei ist, dass er sich von Anfang an aus allen politischen Aktionen heraushält und in Ruhe sein Leben als Familienvater leben will, ist keine Erfindung von frechen Regisseuren, sondern wesentlich für die Dramaturgie des Stücks. Da er nicht Teil der politischen Verschwörung ist, kann er die blutige Tat des Tyrannenmords übernehmen, ohne dass sich die neue Gemeinschaft die Hände schmutzig machen muss.
Bezeichnend ist, dass der Mord an Gessler nicht politisch motiviert ist, sondern als «gerechte Notwehr eines Vaters» bezeichnet wird. Der Held wird als notwendiges Instrument der Revolution vorgeführt, der sein eigenes, privates Ding dreht und damit zufällig jenes politische Problem löst, das auf dem Rütli unbeantwortet bleibt: «Nur mit dem Gessler fürcht ich schweren Stand.(…) Nicht ohne Blut räumt er das Feld (…). Schwer ist’s, und fast gefährlich, ihn zu schonen.» Auch diese Textstellen sind bei Becker gestrichen, die Frage nach dem Helden wird komplett entpolitisiert. Die eigentlichen Helden, so Becker, seien die über hundert Mitwirkenden von Altdorf.
Das klingt nach Motivationstraining und Castingshow, mit der «weltpolitischen Situation» hat es nicht viel zu tun. Wer Lust auf ein unterhaltsames Theatererlebnis und keine Berührungsängste vor Musical- und Blockbusterästhetik hat, dem sei eine Reise nach Altdorf empfohlen. Über die grossen Fragen nach Freiheit, Heimat und politischer Inklusion sollte man aber besser woanders nachdenken.