Weltverbesserung am Abgrund
Die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy hält in zwei neuen Büchern faschistischen Reinheitsfantasien eine Ästhetik des Gesprenkelten entgegen.
Klimawandel, brutale Polizeigewalt, irrsinnige Politiker und eine Pandemie, deren Folgen noch lange nicht ausgestanden sind … A. L. Kennedy zeichnet in zwei Neuerscheinungen ein düsteres Bild der Gegenwart. Zwar hat sich die schottische Schriftstellerin noch nie gescheut, in Abgründe zu blicken, sie zu beschreiben und den Leser:innen nahezubringen. Ob Alkoholismus, sexuelle Obsessionen oder häusliche Gewalt, ihre Figuren gehen durch die Hölle. Doch diesmal droht die Autorin, die uns so sicher durch ihre Fiktionen führt, selbst in den Abgrund zu stürzen.
Wie sehr ihr die Gegenwart zu schaffen macht, beschreibt sie in ihrem Essay «Der Kern der Dinge»: Weil sie seit Jahren als scharfe Kritikerin des Brexit und der britischen Regierung auftritt, hat sie in Grossbritannien keinen Verlag für ihren neuen Roman gefunden. Sie hat ihre Londoner Wohnung aufgegeben und sich in eine Hütte in den Wäldern des US-Bundesstaats New York zurückgezogen, die ihr ein Freund zur Verfügung stellt. «Bis auf die Knochen fertig», versucht sie hier, im selbstgewählten Exil, einen Neuanfang. Sie ist allein, das Schreiben fällt ihr schwer, denn sie leidet an Long Covid. Sie ermüdet schnell und kommt nur sehr langsam voran. Die Krankheit trifft sie an einem besonders empfindlichen Punkt: Ihr Gehirn ist benebelt, sie kann sich beim Schreiben nicht mehr auf ihre Urteilskraft verlassen, denn «das, womit ich urteile, könnte kaputt sein».
Literatur und Menschenverachtung
Ihre Sorge gilt nicht so sehr ihrem privaten Leid, sondern der Frage, wie sie ihre Aufgabe als Schriftstellerin noch erfüllen kann. Denn für Kennedy ist die Literatur notwendig und im eigentlichen Sinn «nützlich». Literatur kann Geschichten anbieten, die einer menschenverachtenden Politik etwas entgegensetzen: «Wir müssen die Hand sein, die jemand an dunklen Orten halten kann. […] Ich bin dafür verantwortlich, Dinge zu schaffen, die vielleicht genau das sind, was jemand braucht, um durchzukommen.» Und das sei jetzt dringender denn je. Denn der Brexit, so Kennedy, sei «das übliche autoritäre Reinheitsprojekt. Es verspricht das Paradies, wenn wir nur rein genug werden können».
Im Kampf gegen diesen faschistischen Traum seien Geschichten ein besonders geeignetes Mittel, weil sie niemals rein, sondern immer gesprenkelt seien: Sie ermöglichten es den Leser:innen, sich in jede Figur einzufühlen, sich frei zu bewegen zwischen unterschiedlichen imaginären Identitäten, Zeiten und Möglichkeiten. «Diese Fluidität erschreckt autoritär denkende Menschen. In Geschichten fliesst die Sosse immer in die Kartoffeln, das Essen mischt sich auf überraschende Weise.»
Der Fiktion der Reinheit hält sie eine Ästhetik des Gesprenkelten entgegen. Was sie damit meint, reflektiert sie einerseits an Beispielen aus Literatur- und Kunstgeschichte, andererseits führt sie es aber auch selbst wirkmächtig und überzeugend vor: Sie verwebt ihre persönlichen Reflexionen mit einem düsteren Märchen, das von Liebe, Gnade und dem Verlust von Heimat erzählt. Aus dem angeblichen Essay wird so ein umfangreicher literarischer Text, der sich jeder eindeutigen Gattungszuordnung entzieht.
Welche enorme Kraft eine «gesprenkelte» Geschichte entfalten kann, zeigt sie auch in ihrem anderen Buch, das soeben erschienen ist. Im Roman «Als lebten wir in einem barmherzigen Land» verwebt sie zwei Stimmen und zwei Genres miteinander, spielt sie gegeneinander aus und lässt sie gegeneinander antreten. Die eine Stimme gehört Anne, einer Grundschullehrerin in London, die einen unerschütterlichen Willen zur Weltverbesserung hat. Während des Lockdowns erzählt sie ihre Geschichte, das heisst, sie schreibt sie in ein Notizbuch, weil sie nicht darüber sprechen kann. Diese Geschichte ist geprägt von Gewalt – häuslicher Gewalt, sexueller Gewalt und Polizeigewalt –, aber auch von Solidarität und Widerstand.
Auch dem Bösen eine Stimme
Als Studentin war Anne Ende der achtziger Jahre Teil einer Gaukler:innentruppe, die mit aktionistischen Performances auf Demonstrationen die Polizei irritierte und erheiterte. Es ging ihnen um den gewaltfreien Widerstand gegen die Sozial- und Kriegspolitik, aber auch um Selbstermächtigung, Kreativität und die Überwindung privater Traumata. Zwanzig Jahre später stellte sich heraus, dass ausgerechnet der Mann, den sie damals liebte – und der eines Tages plötzlich aus der Gruppe verschwand –, ein Polizeispitzel gewesen war, der die Truppe observiert und gezielt in eine Gewaltaktion verwickelt hatte. Für Anne wird dieser Mann, den sie Buster nennt, zum personifizierten Bösen: Er steht für Verstellung, Verrat und Tod.
Diesem Bösen verleiht Kennedy nun ebenfalls eine Stimme. Auch Buster hat seine Geschichte aufgeschrieben und legt sie in einem Umschlag vor Annes Haustür. Auch seine Geschichte ist geprägt von Gewalterfahrungen – in der Kindheit, im Polizeidienst und als verdeckter Ermittler im Drogenmilieu. Buster hat allerdings eine andere Form von Widerstand entdeckt. Enttäuscht, desillusioniert und angewidert stieg er aus dem Polizeidienst aus, um für die Gegenseite zu arbeiten: als Auftragskiller. Auch er ist – in seiner eigenen Erzählung – ein Weltverbesserer. Er tötet mächtige Männer, die furchtbare Verbrechen begehen.
Anne liest seinen Text und entscheidet sich, Buster in ihrer eigenen Geschichte zu Wort kommen zu lassen: «Ich füge ihn hier ein, damit er zu etwas nützt – einmal im Leben kann er sich nützlich machen. Er kann Ihnen verraten, was in den Ungeheuern steckt, die nicht nach Ungeheuern aussehen, was unter der Welt liegt, die freundlich und normal wirkt.» Auf keinen Fall aber will sie die Sprach- und Deutungshoheit verlieren – sie weiss genau, wie schnell wir uns vom Bösen faszinieren, einwickeln, betören lassen. Wie schnell wir unsere eigene Normalität aufgeben, um den Bösewicht zu verstehen und seine Werte als Norm zu akzeptieren. «Diese Geschichte ist meine und handelt von mir. Und sie handelt von den Menschen, die ich liebe. Die Ungeheuer müssen identifiziert werden. Es ist klug, ihre Natur zu kennen, aber ich werde nie seine Stimme in meinem Mund schmecken wollen.»
Die Welt der Spionage
Unversöhnlich stehen sich die zwei Stimmen gegenüber, denn sie erzählen nicht nur aus unterschiedlichen Perspektiven, sondern sie erschaffen zwei völlig unterschiedliche Welten. Während uns Busters Bericht in die Welt der Spionagethriller versetzt, in der Gefühlskälte und Killerinstinkt, Gewalt und die Kunst der Verstellung als überlebenswichtige Tugenden propagiert werden, erzählt Anne ihre Geschichte als psychologischen Roman und stellt ihre Beziehungen – die Möglichkeit oder Unmöglichkeit zu lieben – in den Mittelpunkt. Welche Welt ist die richtige? An welchen Geschichten wollen wir unsere Realität und unsere Vorstellung von «Normalität» ausrichten?
«Wir erzählen die Geschichten, die wir sein wollen», schreibt Kennedy in «Der Kern der Dinge». Was sie damit meint, zeigt sie mit ihrem Roman: Sie hat keine Angst, in Abgründe zu schauen, sie zu beschreiben und erlebbar zu machen. Aber sie hat auch den Mut, von Liebe, Empathie, Solidarität und Barmherzigkeit zu erzählen und uns so an Realitäten zu erinnern, die es zu verteidigen gilt. Nicht nur in Grossbritannien.