11. Mai 2017

WOZJournalismus

Die Psychosophische Gesellschaft verstand sich als eine Alternativgesellschaft. In ihrer Aufarbeitung geht die Historikerin Iris Blum souverän mit Fragen rund um Verschwörungstheorien um und wehrt die Versuchung ab, eine obskure Welterklärung ihrerseits mit einer Offenbarungslogik entlarven zu wollen.

«Das Kultur- und Schulungszentrum Thelema als solches ist mir ein Rätsel.» So endet ein Inspektionsbericht von 1976 über das Labor Thelema im appenzellischen Stein. Verwundert zeigte sich der zuständige Inspektor nicht nur über den desolaten Zustand des Labors, in dem «nach alchemistischen Regeln» dubiose Heilmittel hergestellt wurden, sondern auch über die gesamte Anlage. Die Abtei Thelema war Lebens- und Arbeitsort der Psychosophischen Gesellschaft und umfasste neben dem Labor eine Kapelle, ein Hotel, eine Wetterstation, eine Druckerei, ein Biotop, eine Bibliothek sowie ein umfangreiches Archiv.
 

Gegründet wurde die Psychosophische Gesellschaft 1945 von Hermann Metzger, einem Bäcker aus Luzern. Ihr erklärtes Ziel war es, «die Menschheit zu einem neuen Morgen» zu führen. Dabei orientierte sie sich an verschiedenen esoterischen Alternativlehren der Zeit, war eng verbunden mit den Illuminaten und den Rosenkreuzern und suchte wie diese nach der höchsten Wahrheit. Wie die meisten Geheimgesellschaften, die sich im Dienst eines uralten, aber von den herrschenden Mächten unterdrückten Wissens verstehen, zeichnete sie sich durch einen missionarischen Eifer aus, der im Widerspruch zum angeblichen Geheimnis stand. Als sich die Gesellschaft 2009 auflöste, hinterliess sie ein umfangreiches Archiv, in dem sämtliche Aktivitäten, Beziehungen, internationalen Verbindungen, aber auch ihre «theoretischen» Grundlagen dokumentiert sind.

Nun hat die Historikerin Iris Blum dieses Archiv aufgearbeitet und daraus ein Buch gemacht. «Mächtig geheim» ist der Versuch, die Lebens- und Wirkungsweise dieser Alternativgesellschaft auch für Aussenstehende zugänglich, vielleicht sogar verständlich zu machen.
 

Vorsicht: Verführungsgefahren!

Doch darüber hinaus stellt das Buch Fragen, die den Umgang mit Geheimwissen und die heikle Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Aufklärung und «postfaktischem» Wissen im Allgemeinen berühren. Denn bei der wissenschaftlichen Erforschung von Geheimgesellschaften und Verschwörungstheorien gibt es zwei Versuchungen, denen nur die wenigsten AutorInnen widerstehen. Erstens: Die HistorikerInnen erliegen der Faszination des Abgründigen. Das wäre auch in diesem Fall naheliegend gewesen: Im Archiv Thelema zeugen zahlreiche Dokumente von ritualisierten Sexualpraktiken und spektakulären Selbstversuchen, von schwarzer Magie, obskuren Theorien und hemmungslos ausgelebten Machtfantasien. Aus diesem Material, das gleichermassen lächerlich wie unheimlich ist, hätte man sehr leicht eine voyeuristische Geschichte schreiben können, ein gruseliges Raritätenkabinett, von dem sich die LeserInnen belustigt oder auch angeekelt distanzieren.


Die zweite Gefahr ist versteckter und daher schwieriger zu umgehen: Die verworrenen, meist mit simplen Klischees hantierenden Theorien, mit denen esoterische Gruppen die Welt erklären, sowie die fantastischen Legenden, die sie um sich selbst erfinden, stacheln dazu an, die Sache richtigzustellen. Nicht selten fühlen sich HistorikerInnen aufgefordert, die geheimen Netzwerke zu entwirren, die verborgenen Machtstrukturen und Wirkungsweisen ans Licht zu zerren und der «falschen» Theorie die «richtige» Wahrheit der wissenschaftlichen Recherche entgegenzuhalten.

Das Problem ist, dass sie sich dabei derselben Erzählstrategie bedienen, wie sie für Verschwörungstheorien typisch ist: Es wird nach mächtigen Protagonisten, nach versteckten Interessen, nach vertuschten Zusammenhängen und nach dem Inhalt des gehüteten Geheimnisses geforscht, um daraus die «wahre» Geschichte hinter der trügerischen Oberfläche zu konstruieren. «Die Geheimnisse schienen die eigene Feder geradezu wissenschaftlich unbotmässig beflügeln zu wollen», beschreibt Blum ihren eigenen Kampf mit dem verführerischen Material.
 

Abgründige Allmachtsfantasien

Dass es Iris Blum gelingt, diese messianische Offenbarungslogik zu durchbrechen, liegt vor allem daran, dass sie das Archivmaterial nicht in eine geschlossene Erzählung überführt. Das Buch erinnert viel eher an ein Nachschlagewerk. Es enthält – und zwar in alphabetischer Ordnung – kurze Porträts all jener Personen, die in der Abtei Thelema verkehrten oder mit ihr in Beziehung standen, einen umfangreichen Teil mit Fotos aus dem Archiv sowie verschiedene Artikel, in denen die «Tätigkeitsfelder» der Psychosophischen Gesellschaft genauer beschrieben werden. Es ist daher nicht geeignet für eine lineare Lektüre, sondern fordert durch zahlreiche Verweise zum Querlesen auf. Das macht die Auseinandersetzung anspruchsvoll: Das komplizierte Referenzsystem ersetzt keineswegs die ordnende Autorinstanz, die ein für alle Mal Klarheit schafft, es stiftet keine Einheit, ermöglicht keine einfachen Antworten. Vielmehr müssen sich die LeserInnen ihren eigenen Weg durch das Labyrinth suchen und sich Artikel um Artikel an das obskure Netzwerk herantasten.

Zusammengehalten werden diese sachlichen «Einblicke» von Einschüben, in denen sich die persönliche Stimme der Autorin zu Wort meldet. Auf wenigen eingeschobenen Seiten lässt sie uns teilhaben an ihrer Faszination, ihren theoretischen Reflexionen, aber auch an ihrem Unmut und ihren Widerständen: «Ist dieses Archiv nicht ein aufgeblasener Gigant? Der Niederschlag von wild gewordenen Kleinbürgern? Sind ihre Bekenntnisse und Rituale nicht einfach abgründige Allmachtsphantasien? Vor allem von Männern? (…) Also – es ist eine Zumutung, diese Irrungen und Wirrungen aus viel Schall und Rauch zu archivieren, finde ich plötzlich. Diese hochtrabenden Ideen, diese lächerlichen Stufenlehrgänge und diese angeblich heilenden Initiationsriten. Macht doch diese Archivarbeit selbst, schmettere ich in den menschenleeren Raum. Was kümmern mich diese Hochstapler, diese Grössenwahnsinnigen, diese Chauvinisten, diese pseudoilluminierten Armleuchter mit ihrem närrischen Urkunden- und Stempelfimmel! Mich ärgert, dass ich so lange und so tief durch diesen Morast gewatet und zur lesenden Voyeurin geworden bin.»


Mit dem Buch gelingt es ihr, die Rolle der Voyeurin abzulegen: Weder die Enthüllung des Geheimnisses noch die Blossstellung der ProtagonistInnen sind Gegenstand der historischen Aufarbeitung. Beschrieben werden vielmehr das Alltagsleben, die konkreten Praktiken, mit denen die Gesellschaft ihr Wissen produzierte und publizierte, die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Verbündeten und die GegnerInnen.

Anstatt uns mit Primärquellen zu überhäufen, wählt Blum sorgfältig aus und zeigt an Briefausschnitten und Auszügen aus theoretischen Texten, was diese Leute motiviert haben könnte: In der Abtei Thelema erlangten viele einen Status, der ihnen in den etablierten gesellschaftlichen Institutionen aufgrund ihrer Herkunft und ihrer geringen Bildung nicht möglich gewesen wäre. Besonders deutlich wird das an Hermann Metzger, der aus einfachen Verhältnissen stammte und sich mit der Gründung der Psychosophischen Gesellschaft den Grundstein für eine grosse Karriere im internationalen Geheimbundmilieu schuf. Ende der siebziger Jahre war er Oberhaupt des Orientalischen Templerordens, der Rosenkreuzer, der Gnostisch Katholischen Kirche und des Weltbundes der Illuminaten.

Aber auch für die meisten Frauen, von denen er sich umsorgen, bewundern und aushalten liess, bedeutete die Abtei einen Aufstieg. Selbst jene, die kaum in der Lage waren, einen korrekten Satz zu schreiben, konnten hier eine respektable Position besetzen und an einem elitären Streben nach Wissen, Erleuchtung und Selbsterkenntnis teilhaben.
 

Ein Hahn mit Hühnerhof?

Doch wie mächtig war diese Alternativgesellschaft tatsächlich? Der Titel des Buchs ist etwas irreführend – oder ironisch. Unklar bleibt, wie relevant die Einflüsse waren, die über die Grenzen der Geheimbundwelt hinausgingen. War Metzger ein grosser Mann? Oder war er, wie es ein Besucher einst beschrieb, nur «ein Hahn in einem Hühnerhof, der mit der Peitsche Ordnung» schuf? Der Apotheker, der das Labor Thelema in den siebziger Jahren einer Inspektion unterzog, zeigte sich zwar irritiert, aber keineswegs beunruhigt: Der Betrieb, so steht es in seinem Bericht, könne «als Museum belassen werden, denn Schaden werde kaum gestiftet».


Iris Blum: Mächtig geheim. Einblicke in die Psychosophische Gesellschaft 1945–2009. Limmat Verlag. Zürich 2016.