Das Mängelwesen und seine Maschinen
In einem neuen Essay skizziert die Philosophin Lisz Hirn ein Bild vom Menschen, das dessen Verletzlichkeit ins Zentrum rückt. Das ist anregend, lässt einen aber auch etwas ratlos zurück.
Hat der Mensch ausgedient? Die Frage stellt sich aus mindestens zwei Gründen: Erstens, weil wir dabei sind, die materiellen Grundlagen unserer biologischen Existenz zu vernichten. Und zweitens, weil uns die rasanten Entwicklungen im Bereich der sogenannten künstlichen Intelligenz genau da zu übertreffen drohen, wo die traditionelle abendländische Philosophie das spezifisch Menschliche verortet hat: In der geistigen und künstlerischen Schaffenskraft. Doch stimmt es, dass uns die Maschine den Rang abläuft, und wir im Vergleich mit künstlichen Wesen höchstens als Mängelexemplare durchgehen?
Nein, findet die österreichische Philosophin Liz Hirn. Wenn der Mensch sich im Vergleich mit der Maschine als defizitär empfinde, dann sei das keineswegs einer objektiven Tatsache geschuldet. Es liege vielmehr an einer falsch ausgerichteten Anthropologie: „Die bekannte These, dass der Mensch ein Mängelwesen sei, ist nur schlüssig, wenn man ihn auf gewisse physiologische und morphologische Fähigkeiten reduziert, und diese mit anderen Lebewesen vergleicht.“ Seit dem 18. Jahrhundert war es das „wilde“ Tier, an dem sich die Anthropologie orientierte, um die Sonderstellung des Menschen zu beschreiben. Während das Tier von Natur aus alles habe, was es zum Überleben brauche, fehle es dem Menschen vor allem an Instinkt und körperlicher Robustheit, so die These. Dieses Defizit kompensiere der Mensch mit Technik – was ihn zwar aus der Natur fallen lasse, ihn aber schliesslich zum Herrscher über diese mache.
Problematisch an dieser Erzählung ist vor allem, dass der Mangel als Motor der kulturellen Entwicklung betrachtet und somit zum wesentlichen Merkmal des Menschen stilisiert wird. Hirn zeigt, wie im Zeitalter moderner Technologie das Tier durch die Maschine abgelöst wird: „Der Mensch als Erfinder seiner Maschine fühlt sich diesen plötzlich unterlegen, was den Wunsch erzeugt, selbst wie eine Maschine zu sein.“ Die Maschine ist also nicht menschlich geworden, sondern der Mensch passt sich der Maschine an und eifert ihr nach. Zwar sind die meisten Maschinen auf den menschlichen Körper zugeschnitten, „jedoch wirken sie auch auf den Körper ein und formen diesen durch ihre Nutzung, egal ob wir es mit massiven Maschinen auf dem Bau oder mit dem Laptop im Homeoffice zu tun haben.“ Die Anpassung geht viel weiter, wenn wir unser „Menschsein mithilfe von technischen Innovationen und mittels medizinischer Eingriffe zu einem bestimmten Optimum hin korrigieren möchten“ oder, wie es der Transhumanismus anstrebt, sämtliche „Defizite“ des biologischen Körpers durch technologisches Enhancement zu überwinden versuchen.
Ein solches Menschenbild ist laut Hirn eine Sackgasse, denn der Mensch sei etwas grundlegend anderes. Mit ihrer „Anthropologie der Verletzlichkeit“ will sie ein Menschenbild entwerfen, dass sich am Lebendigen ausrichtet. Aus dieser Sicht erscheint unsere körperliche und psychische Verletzlichkeit als Bedingung, unter denen menschliches Denken und Wirken überhaupt stattfindet und wir uns als Menschen entwickeln. Obwohl das Buch schmal ist, führt der Text auf eine weite Reise durch die Geschichte der Philosophie, und wagt darüber hinaus Ausflüge in verwandte Gebiete wie Wissenschaftsgeschichte und Ethnologie. Hirn bietet eine bunte Auslegeordnung von Thesen, Texten und Konzepten, durch die sie die Frage nach dem Wesen des Menschen im Zeitalter von KI neu beleuchten will. Sie unterteilt das Material in vier Kapitel, die das Feld abstecken, in dem der Mensch sich erkennt und verwirklicht: Essen, Sterben, Werden, Handeln.
An manchen Stellen bringt Hirn überraschende Aspekte ins Spiel. So konfrontiert sie uns im Kapitel „Essen“ mit dem Kannibalismus. Mit Bezug auf den Anthropologen Marvin Harris vertritt Hirn die These, dass der Verzehr von Menschenfleisch deshalb ein Tabu ist, weil wir nur so an der Idee einer Sonderstellung des Menschen festhalten können. Die Unterscheidung zwischen dem Tier als essbarem Fleisch und dem Menschen als nicht-essbarem Fleisch (das auch von Tieren nicht gefressen werden darf), soll die biologische Tatsache verschleiern, dass der Mensch ein Tier ist. Vielleicht, so Hirn, lasse sich der enorme Fleischhunger in unserer Kultur damit erklären, dass wir die prekäre Grenze zwischen Mensch und Tier durch den Fleischkonsum täglich bestätigen müssen.
Obwohl der Text mit ähnlich inspirierenden Thesen gespickt ist, überzeugt er letztlich nicht. Das liegt vor allem daran, dass viele unterschiedliche Denker:innen nur oberflächlich eingeführt werden, ohne Kontextualisierung ihrer Theorien. Zitate werden nahtlos in den Text eingefügt, so dass der Eindruck entsteht, die Philosophie würde mit einer einzigen Stimme sprechen, von Aristoteles über Nietzsche bis Corinne Pelluchon. Widersprüche können so nicht fruchtbar gemacht werden, sondern bleiben unkommentiert und irritierend. Ärgerlich ist das vor allem da, wo es um die wesentliche Frage geht, in welcher Beziehung der verletzliche Mensch zur Technologie steht. Ist er ihr „hörig“ und auf gefährlich Weise ausgeliefert, wie Hirn mit kritischem Blick auf das, was sie ohne weitere Erläuterungen als „Big Tech“ bezeichnet, andeutet? Oder handelt es sich eher um eine narzisstische Selbstbespiegelung, weil Technologie nie ein Gegenüber – ein „Du“ im Sinne von Martin Bubers Dialogphilosophie –, sondern immer die „Erweiterung unseres Ichs ist“, und wir deshalb niemals einen echten Dialog mit einem Chatbot führen können? Oder wäre es angebracht, den verletzlichen Menschen als Teil eines posthumanen Cyborgs zu verstehen, wie Hirn mit Bezug auf Dona Haraway an anderer Stelle impliziert: „Wir sind symbiotisch: Wir leben zusammen zum gegenseitigen Nutzen und in gegenseitiger Abhängigkeit. […] Wenn Haraway also von uns als ‚Cyborgs‘ spricht, dann verweist sie lediglich auf die Tatsache, dass menschliche Tiere seit jeher einen tierisch technischen Mischkörper haben.“
So anregend diese verschiedenen Referenzen an sich sind, bleibt nach der Lektüre eine gewisse Ratlosigkeit: Worauf will die Autorin eigentlich hinaus? Zwar ist es richtig, dass die abendländische Philosophie den verletzlichen Körper auf raffinierte Weise zu verdrängen versuchte. Doch die Kritik daran ist nicht neu. In jüngerer Zeit haben sich unter anderem die Gender Studies, die Disability Studies, die Care Studies aber auch die Ethik, die Postcolonial Studies und die Kognitionswissenschaft auf differenzierte Weise mit Vulnerabilität, Verletzlichkeit, Embodiment und Exposure auseinandergesetzt, so dass ein breiter Diskurs dazu entstanden ist. Es ist nicht nachvollziehbar, warum diese Ansätze bei Hirn gar nicht anklingen und sie die Auswahl ihrer Referenzen nicht erklärt.
Wer eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Anthropologie der Verletzlichkeit erwartet, wird von diesem Buch deshalb enttäuscht. Doch was Hirn bietet, ist eine überaus anregende Lektüre, überraschende Denkimpulse und kursorische Einblicke in zahlreiche historische und zeitgenössische philosophische Texte, die zur Frage des Menschen im Zeitalter von KI wesentliches beizutragen haben.