16. Februar 2017

WOZJournalismus

Regisseur Milo Rau und das Theater Hora am Zürcher Schauspielhaus: Was medial zum Skandalstück aufgekocht wurde, entpuppt sich als Theater der Zärtlichkeit und des Mitgefühls.

Wird es diese Menschen in Zukunft nicht mehr geben? In «Die 120 Tage von Sodom» verhandelt Milo Rau jene heikle Frage, die sich sofort stellt, wenn ein Ensemble von geistig behinderten SchauspielerInnen wie das Theater Hora erfolgreich die Bühnen erobert: Warum werden «solche» Menschen durch Abtreibung gezielt verhindert, gleichzeitig aber im Refugium der Kunst bewundert und durch staatliche Subventionen als Sehenswürdigkeit gepflegt? Mit der Wahl des Stoffs und seiner drastischen Inszenierung führt Rau vor, dass es bei der Jagd der Pränataldiagnostik auf den behinderten Fötus nicht in erster Linie um ökonomische Aspekte geht, wie oft behauptet wird – sondern um eine brutale Logik von Gewalt und Diskriminierung, die unsere Gesellschaft zu regieren droht.


In fünf Szenen zeichnet Rau in «Die 120 Tage von Sodom» jenen grauenerregenden Plot nach, der 1785 vom Marquis de Sade als systematische Untersuchung aller menschlichen Perversionen entworfen und 1975 von Pier Paolo Pasolini mit «Saló» als Allegorie der faschistischen Herrschaftsstruktur verfilmt wurde. Vier Angehörige der gesellschaftlichen Elite – adlige Libertins bei de Sade, adlige Faschisten bei Pasolini – begeben sich für 120 Tage in ein abgeschiedenes Schloss, um dort das ultimative Fest der Lüste zu feiern. Für ihre perversen Spiele nehmen sie zahlreiche «Objekte» mit: junge Frauen und Männer, die sie in rituell inszenierten Orgien vergewaltigen, martern und schliesslich töten.
 

Diagnose Sadismus

Bei Rau nun wurde dafür die Guckkastenbühne des Pfauens im Miniaturformat im Schiffbau nachgebildet, wo sie als Loge für die Elite dient. Die Elite, das sind hier vier Mitglieder des Schauspielhaus-Ensembles, die das Hora-Ensemble als Menschenmaterial missbrauchen. Sie stellen indiskrete Fragen, geben Befehle zu sexuellen Handlungen, zwingen die Opfer, Kot zu essen, sich gegenseitig auszupeitschen oder eine zärtliche Liebesszene zu spielen.
Diese Rollenverteilung mag provozieren, sie ist aber richtig. Statt eine fröhliche Gegenwelt auf die Bühne zu zaubern, die unserem Selbstverständnis, eine aufgeklärte Inklusionsgemeinschaft zu sein, schmeichelt, und zu behaupten, dass alle Menschen gleich an Rechten und Würde sind, wird hier die faktische Ungleichheit deutlich herausgestellt und das reale Machtgefüge offengelegt. Diese Diagnose schafft erst die Voraussetzung für eine sinnvolle Auseinandersetzung. In Anlehnung an de Sade und Pasolini werden die Opfer durch eine Ansprache begrüsst, die ihre Situation klärt: «Hilflose Kreaturen, für unser Vergnügen bestimmt! Was die Welt da draussen betrifft, so seid ihr schon tot. Ihr befindet euch hier jenseits der Grenzen jeglicher Legalität.»


Während de Sade und Pasolini es darauf anlegen, ihr Publikum aufzureizen, damit es auf einer Gratwanderung zwischen Lust und Ekel, Erregung und Abscheu seine eigenen Perversionen erkennt, zielt Raus Inszenierung in eine andere Richtung. Das Lustvolle der Gewaltakte kommt nur begrenzt zum Zug. Den Orgien aus Blut, Kot und Sperma setzt Rau die Lebensgeschichten der SchauspielerInnen entgegen.
«Sara, wurdest du schon einmal vergewaltigt?», wird die Hora-Schauspielerin Sara Hess gefragt, nachdem Michael Neuenschwander aus dem Pfauen-Ensemble in einem Seminar vor johlenden Teilnehmern gezeigt hat, wie man einen sexuellen Übergriff spielt. «Ein Mal», antwortet Sara. Ihre kurze Zusammenfassung bleibt frei von pikanten Details. Die Schlichtheit und Authentizität ihres Berichts unterbrechen sofort das frivole Spiel der Aufreizung und des Voyeurismus, das durch die vorgeführte Vergewaltigung in Gang gesetzt wurde.
 

Doch nicht nur die Opfer, auch die Täter erzählen Geschichten, die in scharfem Kontrast zum sadistischen Universum stehen. So berichtet Michael Neuenschwander in einem sehr intim und persönlich vorgetragenen Monolog von der Abtreibung seines Sohns aufgrund einer Trisomie-21-Diagnose. Er erzählt vom Druck des Arztes und der Familie, von seinen Ängsten, den Alltag mit einem behinderten Kind nicht bewältigen zu können. Und schliesslich vom Grauen und von der Schuld angesichts des tot geborenen Kindes. «Er sah aus wie ich: Haare, Gesicht, Beine, Knie, die Hände. Ich dachte: Das bin ich. Da liege ich, tot. Das ist mein Sohn. Und ich war nicht bei ihm, als er gestorben ist. Ich habe ihn getötet.» Sind die Berichte authentisch? Auf jeden Fall sind sie wahrscheinlich und erinnern an das individuelle Leiden, das durch den gestörten Umgang mit Behinderungen produziert wird.
 

Der totalen Vernichtung von Sinn und Menschlichkeit stellt Milo Rau somit ein Theater der Zärtlichkeit und des Mitgefühls gegenüber. Den Katalog bösartiger Triebe ergänzt er durch das breite Spektrum menschlicher Emotionen: Wut, Angst, Liebe, Trauer, Sehnsucht, Freude. Es ist eine Feier des Lebens, für die er auf die spezifischen Möglichkeiten des Theaters setzt.


Wie bei seinem letzten Stück «Five Easy Pieces», bei dem Kinder in einer Art Castingshow die Taten des Kinderschänders Marc Dutroux nachstellten, gibt es auch hier eine Rahmenhandlung, durch die der Plot als Spiel im Spiel, genauer: als Filmproduktion auf der Theaterbühne, inszeniert wird. Die Szenen sind live auf der Bühne und gleichzeitig in den filmischen Nahaufnahmen zu sehen. Diese mediale Verdoppelung erzeugt einen Verfremdungseffekt, der dem düsteren Thema den nötigen Witz verleiht. Das ständige Schwanken der DarstellerInnen zwischen «sich selbst» und fiktiven Figuren unterbricht die grausame Dynamik und zerteilt die Erzählung in Fragmente.


Was in der Inszenierung völlig ausgeblendet wird, ist die Perspektive der schwangeren Frau und somit auch das Dilemma der feministischen Position. Für eine gesellschaftliche Debatte über Pränataldiagnostik, wie sie Rau mit seinem Beitrag anstossen will, ist diese jedoch zentral. Die Legalisierung der Abtreibung gilt als wichtige Errungenschaft im Kampf gegen die Bevormundung des weiblichen Körpers. Zwar ging es dabei nie um eine Unterscheidung zwischen «guten» und «schlechten» Föten. Und eine medizinisch verordnete Selektion im Sinne eines «gesunden Volkskörpers», die von Schwangeren verlangt, ausschliesslich «normale» Kinder zur Welt zu bringen, kann natürlich kein feministisches Anliegen sein.
Dennoch gibt es für den Konflikt zwischen der Forderung nach weiblicher Selbstbestimmung und einer radikalen Abtreibungskritik keine einfache Lösung. Indem Rau das Stück mit Zitaten aus dem Evangelium rahmt und die Schwangerschaft als Empfängnis des göttlichen Geistes heiligt, gerät er in die Nähe einer Position, wie sie von dogmatischen christlichen Kreisen vertreten wird – nicht gerade ein tauglicher Leitfaden für eine fruchtbare Debatte.
 

Immer neue Opfer

Den Mangel macht das Stück mit den Bezügen zu de Sade und Pasolini wett. Sie zeigen, warum aus dem Verworfenen ein Fetisch wird: Die sadistische/faschistische Gesellschaft braucht Menschenmaterial, um Lust zu empfinden. Ihr geht es nicht um eine perfekte Ordnung, sondern um den Akt der Entmenschlichung. Um sich selbst als Kollektiv von souveränen, freien Menschen zu feiern, ist sie auf die Abgrenzung von «minderwertigem» Leben, über das sie verfügen kann, angewiesen. In einer Gesellschaft, die dieser Logik von Souveränität und Freiheit verfällt, wird es immer Verworfene geben, weil die Eliten immer neue Opfer brauchen, an denen sie ihre überlegene Identität auffrischen können. So entdeckt die Medizin heute laufend neue Syndrome, die Menschen pathologisieren und entwerten. Und auch die Politik zieht engere Grenzen um jene, die rechtlichen Schutz geniessen, und produziert damit mehr «hilflose Kreaturen», die der Willkür ausgeliefert sind.
Es geht deshalb in diesen «120 Tagen von Sodom» nicht eigentlich um das «Aussterben» von Behinderten, sondern vielmehr um die Frage, was wir diesem Normalisierungswahn wie auch der Fetischisierung des «Abnormalen» entgegensetzen können.