Ein raffiniertes Plädoyer
Welches die Möglichkeiten, aber auch die Gefahren der Fiktionalisierung einer «wahren Geschichte» sind, kann an Schillers «Der Verbrecher aus verlorener Ehre» schön aufgezeigt werden.
Dass sich die Literatur gern mit der «Wirklichkeit» beschäftigt, ist an sich nichts Aufregendes und auch nichts Neues. Beunruhigend wird es, wenn sich die naive Idee breitmacht, dass ein literarischer Text die Wirklichkeit abbilden könne – möglicherweise sogar müsse. Nicht nur, weil die aktuelle Vorherrschaft des Dokumentarischen auf einen erschreckenden Mangel an Fantasie hindeutet, sondern vielmehr deshalb, weil Literatur der beste Ort ist, um das Verhältnis von Erzählung und Wahrheit zu reflektieren. Bei allem, was Literatur sein kann, sollte sie diese Funktion auf keinen Fall preisgeben, um mit oberflächlichen Realitätseffekten zu glänzen.
Vorsicht bei wahren Geschichten
Denn die Frage, wie von wem zu welchem Zweck welche Geschichten erzählt werden, welcher Erzählmuster wir uns bedienen und welchen Storys wir warum auf den Leim gehen, ist eminent wichtig, wenn es um die Gestaltung von Lebensräumen und -entwürfen geht. Kurz, es ist eine politische Frage. Gerade wenn ein Text den Anspruch erhebt, eine wahre Geschichte zu sein, ist deshalb besondere Vorsicht geboten: Was genau soll mit diesem Authentizitätsanspruch erreicht werden? Im harmlosesten Fall erhoffen sich AutorIn und Verlag davon einen erhöhten Absatz auf dem Buchmarkt. Im schlimmsten Fall werden damit fragwürdige Normen und Werte zementiert und so still und leise aus dem Bereich des Verhandelbaren hinausgeschoben. Im besten Fall aber wird der Anspruch durch die Erzählung selbst unterlaufen, sodass neben der Geschichte auch die Bedingungen von «Wahrheit» und möglicherweise sogar das Kalkül der Erzählung lesbar werden. Im Fall von richtig guter Literatur kann sogar alles gleichzeitig passieren.
Ein hervorragendes Beispiel für eine solch widersprüchliche Vielschichtigkeit ist Friedrich Schillers «Der Verbrecher aus verlorener Ehre» von 1786. Die kurze Erzählung gibt sich im Untertitel dezidiert als «eine wahre Geschichte» zu erkennen und verfolgt damit gleich mehrere Ziele: Indem Schiller das Leben des bekannten schwäbischen Räubers Friedrich Schwan, der 1760 zum Tod verurteilt wurde, literarisiert, versucht er, von der enormen Popularität der Kriminalerzählung zu profitieren. Der «Modestoff» eines wahren Verbrechens soll als «Lockspeise» dienen und möglichst viele Leser «in allen Klassen» anziehen, «um deren Geld es uns zu tun ist», so Schiller in einem Brief an seinen Freund und Förderer Christian Gottfried Körner.
Hintergrund dieser Mode war eine tiefgreifende Umwälzung des Rechtswesens, die im späten 18. Jahrhundert zu nachhaltigen Reformen führte, von denen unser heutiges Rechtssystem nach wie vor zutiefst geprägt ist. Insbesondere die Umstellung von einem Tatstrafrecht, das für jedes Vergehen ein klar festgelegtes Strafmass vorsieht, zu einem Schuldstrafrecht, bei dem die individuelle, persönliche Schuld des Täters für eine Verurteilung ausschlaggebend ist, war für die Bedeutung der Kriminalliteratur zentral. Denn für ihre Funktion und Gestaltung bedeutete dies, dass sie von einer auf Abschreckung ausgerichteten Berichterstattung zu einer individuellen «Fallgeschichte» wurde: zu einer Erzählung, die sich nicht auf das Verbrechen und die Strafe konzentriert, sondern versucht, in jedem einzelnen Fall die Motivation und Gründe für die Tat zu verstehen und die Schuld des Täters vor dem Hintergrund seiner gesamten Lebensgeschichte zu beurteilen.
Schillers Novelle kann als Musterbeispiel einer solchen literarischen Fallgeschichte betrachtet werden, bei der es darum geht, die Psyche des Verbrechers zu ergründen. «Wir müssen», so Schiller in der Einleitung zum «Verbrecher», «mit ihm bekannt werden, eh er handelt, wir müssen ihn seine Handlung nicht bloss vollbringen, sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich viel mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten.»
Die ausführliche Darstellung der Lebensumstände, die den Protagonisten zum Mörder gemacht haben, soll dem lesenden Publikum ein gerechtes Urteil ermöglichen. Was folgt, ist allerdings keine nüchterne Auflistung von Fakten, sondern ein äusserst raffiniertes, suggestiv formuliertes Plädoyer, das von Anfang an die moralische Rehabilitierung des Verbrechers im Auge hat. Aufgewachsen ohne Vater, hässlich und ungebildet, wird er zuerst durch seine soziale Isolation zum Wilddieb. Eine völlig unangemessene Bestrafung durch einen ungerechten Justizapparat stösst ihn in der Folge gewissermassen aus dem Recht – und entbindet ihn somit von allen rechtlichen und moralischen Pflichten. Zutiefst gedemütigt, finanziell ruiniert, vor allem aber verbittert ob der ungerechten Behandlung, wird er zum Mörder und Räuberhauptmann und unter dem Namen «Sonnenwirt» berühmt-berüchtigt. Trotz seiner Schlechtigkeit kann die Novelle auch mehr als 200 Jahre später ihr Ziel erreichen. Bis heute wird «Der Verbrecher aus verlorener Ehre» als Erziehungslektüre eingesetzt, um die Werte des Humanismus zu vermitteln: War der Mann auch ein Bösewicht, so war er doch ein Mensch, der unser Mitleid verdient.
«Ich bin der Sonnenwirt»
Diesen Effekt der Sympathie erreicht Schiller nicht durch den Stoff, sondern durch eine Poetik, die es darauf anlegt, dass wir uns mit dem Sonnenwirt identifizieren. Wir sollen erkennen, dass der Verbrecher kein «Geschöpf fremder Gattung» ist, «dessen Blut anders umläuft als das unsrige». Einer der rhetorischen Tricks besteht darin, dem Protagonisten im Verlauf der Erzählung selbst das Wort zu erteilen. Mehr noch als die erschütternden Umstände, die den Sonnenwirt ins Verbrechen gedrängt haben, ist es diese Fähigkeit zur Selbstdarstellung, die eine Verbundenheit des Gefallenen mit dem Leser, der Leserin herstellt. Der Verbrecher tritt mit uns ins Gespräch, und siehe da: Er spricht nicht nur unsere Sprache, er kann sich auch auf verständliche Weise erklären! Vor allem aber zeigt er Einsicht. Er ist in der Lage, seinen «Fall» in seiner Einzigartigkeit zu erzählen, sich aber gleichzeitig innerhalb der moralischen und juristischen Normen zu verorten. Mit seinem berühmten letzten Satz, dem Geständnis «Ich bin der Sonnenwirt», rehabilitiert er sich als bürgerliches Subjekt, das seine Identität gewinnt, indem es sich dem Gesetz unterwirft. Zwar bezahlt er mit dem Leben, und doch war er, gerade weil er seine Schuld anerkennt, unschuldig: Opfer und Produkt einer ungerechten Gesellschaftsordnung.
«Wahr» ist die Geschichte also nicht nur, weil sie sich auf einen belegten Fall bezieht, sondern weil sie auch für sich in Anspruch nimmt, die «wahren» Gründe der Tat sichtbar zu machen. Aber natürlich ist Schillers Programm damit noch lange nicht erschöpft: Ihm liegt letztlich nicht daran, dem einzelnen Verbrecher Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Sonnenwirt dient ihm vielmehr als Studienobjekt, an dem er nichts Geringeres als eine allgemeine «Seelenkunde» betreibt. Nach dem Vorbild der zeitgenössischen Medizin dient ihm gerade die Abweichung dazu, die Grundgesetze und das Wesen der menschlichen Natur ausfindig zu machen, wie er in den ersten Zeilen hervorstreicht: «In der ganzen Geschichte der Menschheit ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist, als die Annalen seiner Verirrungen. Bei jedem grossen Verbrechen war eine verhältnismässig grosse Kraft in Bewegung. Wenn sich das geheime Spiel der Begehrungskraft bei dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender, kolossalischer, lauter.» Im Verbrecher also zeigt sich der Mensch an sich.
Die exklusive Individualität
So freundlich Schillers Idee einer einzigen «Gattung» Mensch, die durch das Band der Sympathie miteinander verbunden ist und auch den Gefallenen noch integriert, auf den ersten Blick wirkt, so heimtückisch sind die Nebenwirkungen dieses normativen Programms. Denn was geschieht, wenn der Verbrecher nicht unsere Sprache spricht? Was geschieht, wenn er sich überhaupt nicht artikulieren kann? Dazu kommt die unheimliche Kehrseite der propagierten Gleichheit von Verbrecher und LeserIn: Wenn der Verbrecher «Mensch ist wie wir», dann sind wir – potenziell – VerbrecherInnen, und es ist nur eine Frage der Umstände, ob wir ebenfalls entgleisen.
Zu den historisch bedeutsamen Folgen dieser aufklärerischen Menschheitsfantasie gehört deshalb nicht nur die Formulierung der unveräusserlichen Menschenrechte, sondern, als deren dunkler Schatten, die ständige Pflicht, seine individuellen Abweichungen, sein Tun und Sein in einer für alle nachvollziehbaren Sprache zu erklären. Dies könnte auch die enorme Flut an autobiografischen Publikationen und den Drang zum Exhibitionismus erklären: Der moderne Mensch steht gleichzeitig unter dem Diktat als auch unter dem Generalverdacht der Einzigartigkeit. Mit der Veröffentlichung seiner «wahren» Geschichte kann er zeigen, dass er die Regeln der bürgerlichen Selbstdarstellung in Form einer «Lebensgeschichte» beherrscht – und dass er sich gerade in seiner exklusiven Individualität den normativen Sprach- und Erzählmustern und somit auch dem Gesetz unterwirft.
Schillers Text ist somit aus mehreren Gründen aufschlussreich. Einerseits markiert er jenen historischen Punkt, an dem die Idee des Individuums als «Fall» – und somit als Protagonist einer Fallgeschichte – Realität wird. Andererseits führt er vor, mit welchen sprachlichen Mitteln die «Wahrheit» über das Individuum überhaupt erst hervorgebracht werden kann. Dank dieser sowohl verführerischen als auch transparenten Gestaltung haben die heutigen LeserInnen die Wahl: Sie können die Programmierung zum Mitglied einer humanistischen Moralgemeinschaft annehmen (was sicher nicht das Schlimmste wäre), oder sie können an der virtuosen Erzählung ablesen, was auf dem Spiel steht, wenn wir an die Fiktion einer «wahren Geschichte» glauben.