23. August 2018

WOZJournalismus

Die polnische Chorperformance «Hymne an die Liebe» war die Überraschung zum Auftakt des Zürcher Theaterspektakels. Begeisternd und bitterböse.

Politisches, heutiges, relevantes Theater aus der ganzen Welt, das verspricht die Festivalleitung des diesjährigen Theaterspektakels. Natürlich, das wollen alle. Das Theater soll Ausnahmezustand und Gesellschaftsdiagnose sein. Es soll Grenzen überwinden, aufklären, integrieren, reflektieren. Es soll alte Geschichten neu erzählen, Einblicke in fremde Welten geben, die Privilegierten an ihre Schuld erinnern, den Diskriminierten eine Stimme geben und im besten Fall auch noch unterhalten. Die Ansprüche sind enorm. Kann das gut gehen?
 

Bitte kein Laienchor!

Die Eröffnungsvorstellung der renommierten britischen Gruppe Forced Entertainment ist bereits restlos ausverkauft, aber als Alternative zu ihrem «Table Top Shakespeare» wartet eine Überraschung: «Hymne an die Liebe» heisst das Stück der polnischen Regisseurin Marta Gornicka. Die Ankündigung klingt vielversprechend: eine Chorperformance, die die Möglichkeit von Gemeinschaft auf schmerzhafte Weise infrage stelle. Während sich der Zuschauerraum füllt, füllt sich auch die Bühne: Die DarstellerInnen treten auf, nacheinander, stellen sich hin, blicken ins Publikum. Die Bühne als Spiegel. Oder besser: als Zerrspiegel.

Denn auf der Bühne stehen keine Zürcher TheaterbesucherInnen, sondern polnische SchauspielerInnen. Aber sind es wirklich SchauspielerInnen? Die Gruppe ist auffällig heterogen. Junge, Alte, Dicke, Dünne, Turnschuhe, Lackschuhe … Ihre Kleidung ist insgesamt eher dunkel gehalten, aber sehr alltäglich. Auch ein Kind ist auf der Bühne zu entdecken. O nein, bitte kein Laienchor!

Nichts gegen Laienchöre, aber die Kombination von politischem Theater und Laienchor ist auf deutschsprachigen Bühnen zu einer Masche geworden. Der Laienchor wird vielerorts als Rezept zur Überwindung des angestaubten Repräsentationstheaters bemüht. Man erhofft sich von LaiInnen mehr Authentizität, weil sie nichts darstellen oder weil sie das darstellen, was sie sind: Arbeitslose, Flüchtlinge, BürgerInnen. Der Chor, so wird oft argumentiert, sei ein Urelement des Theaters. Schon im antiken Drama habe der Chor die Polis, also die politische Gemeinschaft, repräsentiert und sei aus Laien rekrutiert worden. Der Chor konfrontiere das Publikum deshalb mit seiner Funktion als politisches Kollektiv. Historisch ist das wohl korrekt. Doch was in der Gegenwart dabei herauskommt, ist meist uninteressant, wirkt dilettantisch oder allzu sehr um politische Bedeutsamkeit bemüht.
 

Eine akustische Überwältigung

Doch dann beginnt «Hymne an die Liebe», und nach wenigen Sekunden ist jede Sorge verflogen. Das ist kein Sprechchor. Das ist ein Orchester. Eine Musikmaschine. Ein dynamischer Klangkörper, der immer wieder neue Harmonien, Rhythmen und Geräusche hervorbringt. Es wird skandiert und gesungen, gebrüllt und geflüstert, einstimmig, mehrstimmig, und immer atemberaubend präzise. Es ist eine akustische und visuelle Überwältigung. Hier wird die Grenze des Theaters zur Musik hin überschritten. Aber gleichzeitig führt uns diese «Hymne an die Liebe» die Essenz der Theaterkunst vor: Körper und Stimmen. Die Inszenierung kommt mit wenigen Requisiten und Lichteffekten aus. Und doch gibt es keine Redundanzen, keine Längen, keine Wiederholungen. Die Dramaturgie ist bestechend, die Präsenz der DarstellerInnen umwerfend.

Und nicht nur formal ist «Hymne an die Liebe» eine Wucht, denn hier wird auch eine Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte einer Gemeinschaft, die ihren gemeinsamen Nenner in einer christlich-nationalistischen Tradition findet. Und die diese Tradition mit einer aggressiven, faschistischen Rhetorik gegen einen unsichtbaren Feind – das «Fremde» – verteidigt. Für die Texte verwebt Marta Gornicka Sprachmaterial aus politischen Statements, Popsongs, nationalistischen Hymnen und Kirchenchorälen. Das Verfahren erinnert an Elfriede Jelinek, die es in ihren Werken ebenfalls darauf anlegt, das Publikum mit dem zu konfrontieren, was sie «Sprachmüll» nennt: mit einer konsensfähigen Sprache, deren gefährliche Abgründe erst in der künstlerischen Verdrehung und Verdichtung sichtbar werden. Doch im Unterschied zu Jelineks ironisch verwickelten Sprachspielereien spricht dieser Chor Klartext. In your face. Und das wirkt.
 

Denkanstoss für Zweifelnde

Das Unheimliche dabei ist, dass diese Gemeinschaft gerade keine uniformierte Truppe ist. Im Gegenteil, da sind auch Frauen, Kinder, Behinderte dabei – jene Gruppen also, die man in Europa lange aus der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen hat und deren Inklusion man jetzt mit viel Nachdruck als westlichen Wert feiert. «Wir Polen sind nur Menschen», so heisst es in einer mehrfach wiederholten Sequenz. «Wir sind gewöhnliche, durchschnittliche Menschen.» Doch genau von dieser Inklusionsgemeinschaft kommt die Gefahr einer neuen Ausgrenzung, nicht nur in Polen. Das ist das bitterböse Fazit dieser «Hymne».
Was man in «Hymne an die Liebe» alles erlebt, ist mehr, als die Ankündigung versprochen hat: die Begegnung mit Unbekanntem, die Konfrontation mit dem Eigenen, Verblüffung, Unterhaltung, Aufklärung, Reflexion. Und wenn jetzt die Skeptikerin meckert, das sei doch wieder mal eine Predigt für die Gläubigen gewesen, dann muss man entgegnen: Nein, das war ein Denkanstoss auch für Zweifelnde. Und deshalb ein absolut überzeugender Auftakt, der Lust macht auf mehr Theaterspektakel.