2017

Konstanz University PressWissenschaft

Der Führer ist das Geheimrezept, das irgendwie immer passt...

Martina Süess: Führernatur und Fiktion. Charismatische Herrschaft als Phantasie einer Epoche. Konstanz University Press 20176.

Gefährliche Lösung: Einleitung

Charismatische Herrschaft als Phantasie zu bezeichnen, mag im Rückblick auf das 20. Jahrhundert – aber auch im Hinblick auf aktuelle politische Phänomene – wie eine Provokation erscheinen. Und erklärungsbedürftig ist auch die historische Verortung, die hier vorgenommen wird, wenn mit Jürg Jenatsch ein Roman von 1874 den Anfang einer ›Epoche des Führers‹ markiert. Natürlich wäre es schlicht falsch zu behaupten, dass es vor diesem Zeitpunkt keine Herrscher gegeben hätte, die charismatisch genannt werden können. Geschichtsschreibung und Literatur berichten seit frühester Zeit von Führerpersönlichkeiten, die sich durch herausragendes Talent oder durch einen besonderen Glanz auszeichneten, und deren Führungsanspruch durch verschiedene Zeichen wie außerordentliche Erfolge oder eine zauberhafte Wirkmacht auf ihre Gefolgschaft bestätigt wurde. Sie sind nicht nur die Protagonisten zahlreicher historiografischer Texte – von Cäsar bis Napoleon und Hitler –, sondern auch die Helden einer Erzähltradition, die von der Ilias über die Evangelien und die mittelalterlichen Alexanderromane bis zu den neuzeitlichen Herrscherdramen reicht, und sich im 20. und 21. Jahrhundert in unzähligen fiktionalen Reflexionen über die verführerische Kraft wahnsinniger Diktatoren fortsetzt. So könnte man also auch behaupten, dass es zu allen Zeiten und an allen Orten charismatische Führer gegeben hat – eine These, die von Max Webers Herrschaftssoziologie, die bis heute als das Standardwerk zu diesem Thema gilt, materialreich gestützt wird. Die konkreten Beispiele, an denen Weber den Typus des charismatischen Führers exemplifiziert, entstammen den unterschiedlichsten Epochen und geografischen Räumen. Von Kriegshäuptlingen in unbestimmten Urgesellschaften sowie in indianischen und afrikanischen Stammesgemeinschaften ist die Rede, von orientalischen Religionsbegründern und westlichen Sektengurus, von mittelalterlichen Usurpatoren und modernen Populisten. Charisma wird bei Weber ganz offensichtlich als universelles Phänomen beschrieben, und die ethnografischen und historiografischen Quellen, auf die sich Weber bezieht, können keinesfalls als reine Phantasiegebilde abgetan werden. Warum also den charismatischen Führer als Phantasie einer Epoche untersuchen?
 

Epoche des Führers

Es ist gerade Webers typologische Beschreibung der charismatischen Herrschaft selbst, die eine solche Verortung nahelegt. Die verschiedenen Texte und Textfragmente, die zwischen 1910 und 1920 entstanden sind und in denen Weber diesen Herrschaftstypus immer wieder neu zu fassen versucht, bilden Ausgangspunkt und Ziel der hier vorliegenden Studie.1 Denn wer über Führer schreibt, schreibt immer auch im Gefolge Webers. Durch die Verknüpfung der Begriffe ›Charisma‹ und ›Führer‹ hat Weber einen der erfolgreichsten soziologischen Topoi überhaupt geschaffen. Die Rede über Führertum – sei es politischer, betriebsökonomischer, religiöser oder pädagogischer Art – kommt kaum ohne seine Terminologie aus, was ihn in den Stand eines »Diskursivitätsbegründers«2 erhebt: Webers Charisma-Konzept ist nicht nur ein weiterer Beitrag zum Führerdiskurs der Jahrhundertwende, sondern bestimmt bis heute die Regeln, Kategorien und Denkfiguren, mit denen über Führer und deren Gefolgschaft nachgedacht werden kann. Wer heute über charismatische Herrschaft spricht, bezieht sich auf Webers Theorie wie auf ein ursprüngliches Koordinatensystem.


Ein Grund für diesen anhaltenden Erfolg ist die Tatsache, dass Weber mit der Typologie...
 

Möchten Sie weiterlesen? Die ganze Einleitung finden Sie unten als PDF Download. Oder bestellen Sie das Buch direkt beim Verlag.