Unter erschwerten Umständen
Können Mütter gleichzeitig Künstlerin sein? Julia Weber findet in
«Die Vermengung» Antworten.
Wie wichtig sind die Bedingungen, unter denen Literatur entsteht?
Wer dem Geniekult huldigt, wird sagen: irrelevant, eine Nebensache. Echte Künstler lassen sich von widrigen Umständen nicht bremsen, sondern produzieren auch in ungeheizten Mansardenzimmern mit hungrigem Magen und chronischer Bronchitis Werke von ewigem Wert.
Seit mindestens hundert Jahren schreiben feministische Autor:innen gegen diesen Geniekult an und rücken die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und ihren Bedingungen in den Fokus. Wer kein eigenes Zimmer und kein Geld habe, werde kein Meisterwerk verfassen, schrieb Virginia Woolf 1929. Seither ist die Kritik am Geniekult nicht abgebrochen. Sie wurde sogar zum wichtigsten Motor für Literatur und Literaturkritik im 20. und 21. Jahrhundert: Dass Kunst die soziopolitischen und ökonomischen Bedingungen ihrer Entstehung mit im Blick hat und kritisch reflektiert, ist zu einem Qualitätskriterium, für manche sogar zum Wesensmerkmal von «Kunst» geworden.
Veränderung auf allen Ebenen
Aber was gehört alles zu den «Bedingungen», die es zu reflektieren gilt? Welche Faktoren sind wichtig, welche nebensächlich?
Mit «Die Vermengung» hat Julia Weber einen grossartigen Roman geschrieben, der zeigt, dass auch diese Frage niemals geklärt ist. Und dass Literatur genau der Ort ist, an dem diese Frage verhandelt werden muss. Denn kein Medium eignet sich besser, um die Grenzen zwischen dem, was als bedeutend, und dem, was als banal gilt, sichtbar zu machen und zu verschieben, als die Kunst.
Der Roman ist unter erschwerten Bedingungen entstanden: Die Figuren und die Themen hatten bereits Gestalt angenommen, als Julia Weber feststellte, dass sie schwanger war. Weil sie schon ein Kind hatte und ihre letzte Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt geendet hatte, war ihr klar, was das bedeutete: radikale Veränderung auf allen Ebenen. Leben und Tod sind in diesem Zustand keine abstrakten Begriffe, sondern werden physisch, am eigenen Leib erfahrbar. Der Körper, die Emotionen, das Denken, aber auch die Familienkonstellation und die Tagesroutine werden sich verwandeln. Bleibt da überhaupt noch Platz für die Kunst?
Weber spielt mit dem Gedanken, die Schwangerschaft abzubrechen. Sie ist Schriftstellerin durch und durch, und die Vorstellung, dass sie mit einem zweiten Kind nicht mehr schreiben könnte, ist ihr unerträglich, eine existenzielle Bedrohung. Darüber zu sprechen, ist jedoch schwierig: Während dem Genie alles erlaubt wird, solange es der Kunst dient, wird von Schwangeren erwartet, dass sie vom ersten Tag an das Wohl des zukünftigen Kindes über alles stellen. Dass eine Frau abtreibt, weil sie Zeit zum Schreiben braucht, ist gesellschaftlich nicht akzeptiert. Weber wendet sich deshalb an ihre Romanfigur Ruth: «Ich kann niemandem sagen, dass ich dieses Kind nicht will, nicht haben kann, sage ich. Ich kann niemandem sagen, dass ich diesen Körper verlieren werde an dieses Kind, meine Kunst, mein Leben, dass ich es darum nicht haben kann.» Ruth weiss, was sich die Autorin noch nicht eingestehen will: «Du kannst es nicht wegmachen, du liebst es schon jetzt zu sehr.»
Das Gespräch zwischen Autorin und Figur markiert den Beginn für die titelgebende «Vermengung»: Kunst und Leben, Fiktion und die Bedingungen, unter denen die Fiktion entsteht, werden im Text selber verwoben, befruchten und bedrängen sich gegenseitig und führen dazu, dass sowohl das Kind als auch der Roman tatsächlich entstehen. Weber schafft sich so durch ihre eigene Poetik die Bedingungen, unter denen sie Mutter und Schriftstellerin gleichzeitig sein kann. Die Vermengung von Leben und Kunst sei, so schreibt sie, «die einzige Möglichkeit. Keine separierten Räume mehr, alles zusammentun, leben, schreiben, lieben, auch schreien, sage ich und schaue zu Z., die unter dem Tisch sitzt und den Tisch anschreit. Wir sammeln alles ein, was wir finden, sage ich und gehe zu Z. unter den Tisch. […] Wir archivieren die Bilder und Gefühle, die mit den Bildern ausgelöst werden. Wir setzen die Erlebnisstücke ein, wenn es der Text braucht.»
Frauen gleich Mütter
Die Geschichte, die Weber in ihrer eigenen, bezaubernden Sprache erzählt, ist dramatisch, politisch und persönlich – wie jede Schwangerschaft und ihre Folgen. Und nach der Lektüre fragt man sich: Ist es nicht erstaunlich, dass das Thema in der Literatur so wenig Beachtung findet, wenn es doch das universelle und existenzielle Abenteuer ist?
Der wichtigste Grund für diese Tatsache ist natürlich, dass Mütter meist Frauen sind. Über 98 Prozent der Menschen, die bei Geburt als weiblich kategorisiert werden, haben eine Gebärmutter und können schwanger werden. Im 18. Jahrhundert hat man aus diesem Umstand eine Gleichung gemacht, die zwar falsch ist, aber dennoch bis heute nachwirkt: Frauen gleich Mütter. Auf Grundlage dieser Gleichung wurden Frauen aus der Öffentlichkeit verbannt, mit dem Argument, dass es ihrer natürlichen Bestimmung entspreche, Kinder zu gebären und zu umsorgen. Ein aufschlussreiches Zeugnis davon ist Schillers Gedicht «Die berühmte Frau». Darin beschwert sich ein beleidigter Ehemann über seine Gattin, der ihre Texte wichtiger sind als Mann und Kind:
Sie schläft so süss! – Doch darf ich sie nicht schonen.
«Die Zeitungen, Madam, aus Jena und Berlin!»
Rasch öffnet sich das Aug der holden Schläferin,
Ihr erster Blick fällt – auf Rezensionen.
Das schöne blaue Auge! – mir
Nicht einen Blick! – durchirrt ein elendes Papier.
(Laut hört man in der Kinderstube weinen)
Sie legt es endlich weg und frägt nach ihren Kleinen.
Bei Schiller wird die schreibende Frau für ihre falschen Prioritäten hart bestraft: Sie wird nicht mehr begehrt, sondern «aus Cythereas goldnem Buch gestrichen». Der Mann verweigert ihr die Anerkennung als geschlechtliches Wesen.
Heute wird zwar keine Frau Schiller nach seiner Meinung fragen, bevor sie ein Buch schreibt. Doch die Drohung wirkt nach wie vor. Auch Julia Weber quält sich mit Schuldgefühlen und ahnt, dass die Gesellschaft und selbst ihr Partner, bei aller vordergründig gelebten Gleichberechtigung, doch eigentlich andere Erwartungen haben. «Auf jeder Bühne, auf der ich sass, hörte ich eine Stimme, eine im Publikum oder eine in meinem Kopf oder deine in meinem Kopf, die sagte, was machst du hier, du gehörst zu deinem Kind.»
Im 20. Jahrhundert haben sich Künstlerinnen vehement gegen diese Stimme gewehrt. Es wurden gleiche ökonomische und politische Bedingungen gefordert, und die Anerkennung weiblicher Autorschaft – unabhängig von körperlichen Differenzen. Das war wichtig. Aber es hatte seinen Preis: Der weibliche Körper wurde zum Tabu oder gar zum Fehler im System. Nicht nur für eine bürgerlich-konservative Gleichstellungspolitik. Auch viele feministische und queere Autor:innen sind bemüht, Schwangerschaft als Nebensache zu behandeln. Philosoph:innen und Science-Fiction-Autor:innen träumen spätestens seit den siebziger Jahren davon, den weiblichen Körper von den lebens- und gesundheitsgefährdenden Zumutungen der Schwangerschaft zu befreien: Durch Ektogenese, also durch die Fortpflanzung ausserhalb des Körpers, soll die Überwindung des Patriarchats gelingen.
Veränderte Idee von Kunst
Bis heute kann allerdings keine Technologie dem Mutterbauch auch nur annähernd das Wasser reichen, und dank moderner Reproduktionsmedizin können sogar immer mehr Menschen schwanger werden. Wie können Bedingungen geschaffen werden, damit auch Menschen, die schwanger werden, den öffentlichen Diskurs prägen? «Die Vermengung» steht für diesen Aufbruch in eine neue Ära des Feminismus und der Gleichstellung. Nicht nur, weil Weber es wagt, über ihr Muttersein zu schreiben, sondern weil sie es ganz dezidiert im Modus der Kunst tut. Wenn aber Mütter, mit allem Drum und Dran, tatsächlich Kunst machen können, dann verändert das nicht nur unsere Idee von «Mutter», sondern auch unsere Idee von «Kunst». Es gehe, sagt die Freundin in Webers Roman treffend, «um das Stärken der Weichheit in der Kunst und um das langsame Abtragen des Bildes des Genies […]. Nicht aus der Kompromisslosigkeit, sondern aus der Einfühlsamkeit, Fürsorge, verdammt noch mal, sagt A., solle die Kunst entstehen.» Dass es funktioniert, beweist der Roman.
Julia Weber: Die Vermengung. Limmat Verlag. Zürich 2022.